Die Klamurke Notizen von unterwegs

Fernsehnotizen

Infolge Fernsehallergie guck ich nur selten fern. Wenn grad keine andere Möglichkeit besteht, um mich halbwegs über irgendwelches Geschehen zu informieren, schaltete ich früher gelegentlich ein. Inzwischen kaum noch, da man sich zuverlässiger und umfassender per Internet informieren kann. Man muß da halt ein gewisses Fingerspitzengefühl entwickeln, die Spreu vom Weizen zu trennen. Beim Fernsehen kann man höchstens zwischen mehreren Programmen hin und her schalten; was aber nix bringt. - Und dann hab ich mal ausprobiert, wie es iss, wenn man den Quatsch, der da vor einem abläuft, tippend synchron kommentiert.

Fernsehabend mit Computer:
Harald Juhnke und Schneewittchen

Zusammenschnitt von Notizen aus mehreren Fernseh-Sitzungen während Heranreifens eines anstehenden Golfkriegs

Mitte August 1990

Der Fernseher läuft. Ich hab ihn eingeschaltet. Ich! Der Ton iss weg; den spar ich mir. Aber der Fernseher läuft. Vorhin waren Harald Juhnke da und Roy Black. Gesungen haben sie, glaub ich. Dann haben welche applaudiert. Harald Juhnke hat dann was zu einer vollbusigen Schönen gesagt (hatte übrigens wirklich wat von schön; sieht man selten am Fernseher. Oder ob ich nur zu wenig gucke?) Jetzt tanzt er mit irgendeinem Menschen herum, dessen Gesicht sich gar widerlich ausmacht; scheint zu singen; und dann hupft da so'n Ballett herum; die typischen Fernsehzicken, mit blöden Gesichtern; und genau die richtigen Grimassen schneiden sie, um noch blöder zu wirken. Aber eigentlich ging es mir ja um wat anderes. Worum ging es mir? Der Fernseher lenkt mich ab. Ich könnt ihn ausschalten. Aber ich will ihn nicht ausschalten. Eine halbnackte Schöne im Bett. Nu; übermäßig schön isse nicht; aber halbnackt ist sie und im Bett. Noch immer. Jetzt nimmer. Ich komm mit Tippen gar nicht mit. Scheinwerfer tanzen über die Bühne; irgendwas wird kommen. Ganz grün wird's. Einer steht vor leeren Sesseln. Scheint zu singen. Ja. Er singt. - Eigentlich ging es mir ja nicht darum, den tonlosen Fernseher zu kommentieren; irgendwas anderes wollte ich. Wenigstens habe ich jetzt Ruhe; es passiert so wenig. Noch immer steht der Typ im Scheinwerferlicht vor den leeren Bänken; und noch immer scheint er zu singen. Ganz angeregt. Es iss, wie ein Seitenblick mich belehrt, Harald Juhnke. Woher weiß ich, daß der Harald Juhnke heißt? Von irgendwoher weiß ich es. Was weiß ich sonst von ihm? Wenig. Daß früher irgendwelche Sendungen von ihm auszufallen pflegten, weil er im entscheidenden Moment jeweils besoffen war. Weiß ich von Jens; ich selbst war damals schon fernsehallergisch. Woher Jens das wußte weiß ich nicht. Vielleicht hat er es in der Zeitung gelesen. Oder er wollte die betreffenden Sendungen schauen und konnte nicht, weil Harald Juhnke besoffen war. Durch Jens kenn ich den Namen Harald Juhnke und bring selbigen Namen mit alkoholbedingten Sendungsausfällen in Verbindung (er unterhält sich grad mit einer älteren Dame; Harald Juhnke natürlich, nicht Jens); und als ich dann beim Durchblättern irgendwelcher Zeitschrift unter irgendwelchen Fotos auf den Namen Harald Juhnke stieß, da wußte ich: Aha, so sieht der also aus; und weil nun mal der Name sich mir eingeprägt hatte prägte sich mir auch die Zuordnung des Namens zu jener Physiognomie ein; und wie ich vorhin den Fernseher einschaltet und so `ne Sendung begann mit Harald Juhnke, da wußte ich sofort, daß der Mensch, der da im Zentrum herumhupft, Harald Juhnke ist. Ein Sketch scheint zu laufen; Harald Juhnke mit der bereits eingangs gezeigten Dame an einem Tisch; machen auf Vornehm; dann einer, der den Butler zu spielen scheint. Sie unterhalten sich. Anfangs hab ich übrigens ein paarmal reingehört. Ich verstand, daß das alles lustig sein soll; für meinen Geschmack aber war es nicht lustig; und um mich nicht unnötig zu ärgern machte ich den Ton wieder weg.

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Noch immer läuft der Fernseher; schon wieder ohne Ton. Wenn zwischendurch mit Ton, so hatte das damit zu tun, daß ich auf einigen Sendern Nachrichten schaute; und da braucht man nu mal Ton. Und mir fiel auf, daß für mich im Grunde die ganze Welt ein Fernsehprogramm iss und sonst nix. Und deswegen kann ich wohl normalerweise so gut auf das richtige, offizielle Fernsehen verzichten.

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RTL. Maskierte, die mit Pistolen herumfuchteln; dann auch wieder friedlich und idyllisch. Jetzt grad ein Swimmingpool; einer springt rein; es spritzt; zwei unterhalten sich. Es wird viel gesprochen in diesem Film; das muß man schon sagen. Was weiß ich zwar nicht, weil ich, wie gesagt, den Ton abgestellt habe; aber es wird gesprochen.

Eine Party. Jemand telefoniert. Muß auch sein. Jetzt tanzen welche; vermutlich Statisten.

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Die Golfkrise habe sich weiter zugespitzt, hieß es. Näheres dazu in den Spätnachrichten. Dann kam Werbung. Wieder läuft der Fernseher. Ohne Ton...

Jetzt kommen die Nachrichten. Ton an.

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Programm mit einem bunten Kreis als Kennzeichen. Da läuft so'n Raumfahrerzeugs. Dumm, strohdumm; ich hab eine Viertelstunde lang den Ton eingeschaltet und durfte erleben, wie dumm es ist. Einen Planeten wollten sie zerstören; einfach so; und dann fiel die Bombe nicht; ließ sich aber nicht davon abbringen, auf der vorprogrammierten Detonationszeit zu beharren. Man redete mit ihr; aber sie stellte auf stur. Dann kraxelte einer in einen Tiefkühlkeller hinunter, wo der Kommandant des Raumschiffes eingefroren war und unterhielt sich mit ihm via Hirnströme, um von ihm den rettenden Rat zu bekommen; doch der Tiefgefrorene laverte via Hirnströme mit müder Stimme herum und verstand nicht recht. Was friert man die Leute auch ein!

Noch immer sitzen sie in ihrem Raumschiff und sind mit der Bombe beschäftigt; nur halt ohne Ton.

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Auf Sat 1 (der mit dem bunten Kreis) eine parodistische Version von Grimms Märchen. Soviel weiß ich, weil ich bei der Ansage den Ton eingeschaltet hab. Ich hab ihn aber sofort wieder ausgemacht, weil das, was ich da hörte, nix für empfindlichen Sprachsinn iss. Gut. Ein gemütlicher Fernsehabend mit meinem Computer. Doch nett; nich?

Schneewittchen soll umgebracht werden. Sie iss halbnackt und sehr gut gebaut; so 'ne Art Bikini hat sie an; das Oberteil hält nicht so recht...

Aber dumm iss det janze, so saudumm.

Ich bin von einer bleiernen Gleichgültigkeit. Einer iss ins Wasser gefallen; und dann noch einer. Zweie plagen sich auf einem Pferd herum. Soll, wenn ich recht verstehe, so eine Art Sexfilm sein; das Ganze drumrum dient, scheint's, als Vorwand, ab und zu die nackten Brüste von Schneewittchen zu zeigen; doch die verlieren in diesem Morast aus Dummheit und schauspielerischer Tiefstleistung jede Brisanz. So seh ich det zumindest; aber sicher sehen andere es anders. Wenn ick denen sagen würde, daß Sünde nur dort von Interesse iss, wo der Geist, von dem sie sich absetzt, zumindest noch a bisserl spürbar iss? Hä? Die würden mir darauf antworten, ick soll bitte nicht so gscheit daherlavern und mir lieber die Brüste von Schneewittchen ankucken. - Aber ick seh sie ja, die Brüste; nur wat soll ick damit, wenn alles ringsum so dumm iss und so blöd? Iss doch öde, sowat? Hä? Oder findet ihr nicht? Zeigt mir denn in gekonnter Weise Schneewittchen als gefallenen Engel; als Heilige mit Neigung zur Hure; oder auch, wenn's anders nich geht, als Hure mit Neigung zur Heiligen; dann könnemer weitersehen; und dann werden vielleicht auch ihre Brüste interessant... Aber so... nee danke.

Sumpffrösche sind det; reine Sumpffrösche... Abgrund und Höhe verschwimmen im dumpfem Gedröse ihres Gequake und Geplantsche...

Eigentlich geht's mir, glaub ich, um wat anderes. Wat will ich? Hä?

Iss doch egal. Wat soll man schon wollen. Alles iss leer, alles gleich, alles war...

Solschenizyns Rückkehr nach Rußland

Fernsehsender NTV; Sendung "Itogi" ("Bilanz")

In Russland Notiertes

Sonntag, den 29.Mai 1994 *21.14* - Moskau

Bericht über Solschenizyns Rückkehr unter dem Titel: "Solschenizyn - der neue russische Präsident?" Trotz des grellen Titels hatte der Bericht nichts marktschreierisches an sich; und es war zu spüren, daß den Autoren selbst eine solche Variante nicht unsymphatisch wäre.

Solschenizyn meinte: Er sei nicht zu spät gekommen; er sei genau richtig. Seine vor drei Jahren veröffentlichte Arbeit sei nicht aufgegriffen worden; sei von Gorbatchov sogar systematisch unterdrückt worden. Das heißt, daß die Zeit damals noch nicht reif war für ihn.

Kurzinterviews mit politischer Prominenz.

Während ich dies tippte lief der Fernseher weiter; die weiteren "Itogi" brachten den üblichen politischen Brei. Dann sah ich plötzlich einen spielfilmartigen Einschub; mit schlechten Schauspielern; stellte eine Versammlung der Petersburger Haute Volée um die Jahrhundertwende dar. Eine bärtige, von einem sehr schlechten Darsteller gespielte Persönlichkeit, zog offenbar die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Neugierig geworden, drehte ich den Ton lauter. Man fragte, wer denn das sei. Und die Antwort: Das ist Stolypin. Dieser schlecht gespielte Stolypin trat nun vor die Kamera und sagte in süßlichem Ton irgendwas über den Dienst an Russland; und dann wurden die Papiere irgendeiner Bank oder Versicherung gezeigt, die gleichfalls sich dem Dienst an Russland verschrieben hat. Werbung... Die Werbung hier ist langatmig und teilweise noch geschmacksloser als das, was ich im Westen gewohnt bin; und dann hat sie noch den Nachteil, daß sie ohne Vorwarnung in jede beliebige Sendungen, und sogar in Nachrichtensendungen, eingeblendet wird. Ich saß da, ratlos vor Wut... Man kann ja nicht einfach den Fernseher kaputtschlagen... Welche Bank oder Versicherung sich denn da dem Dienst an Russland verschrieben hat bekam ich nicht mit; nicht nur, weil ich vor Wut perplex war, sondern weil das nach dem langatmigen Vorspann viel zu schnell über die Bühne ging.

Weiter im Text: Die Kurzinterviews mit der politischen Prominenz. Blasse Gesichter ohne Ausdruck; Antworten entsprechend. Am wenigsten dumm die Antwort von Ruzkoi; allerdings meint der, daß Solschenizyn wohl am ehesten auf Seiten der patriotischen Parteien stehen wird und daß er sich auf ein Gespräch mit ihm freut. Er hat halt einiges nicht verstanden, der Ruzkoi...

Ölbedeckte See und Boris Becker

27. Januar 1991

Bevor ich dusche möchte ich noch festhalten, daß ich grad eben von hilfloser Wut gepackt worden bin; und um wenigstens so zu tun, als tu ich was, um nicht ganz so hilflos zu scheinen vor mir selbst, will ich es wenigstens schriftlich festhalten.

Ich schaltete denn den Fernseher ein wegen Golf1. Auf einem Sender lief tatsächlich Golf; so die letzten Ausläufer. Situation der ölbedeckten See; Situation in Amman. Und dann ging es über zu den allgemeinen Nachrichten. Links vom Sprecher wurde ein Foto eingeblendet; UND AUF DIESEM FOTO GRINSTE DIE FRESSE VON BORIS BECKER; UND DER SPRECHER SAGTE: "AUS GEGEBENEM ANLAß BEGINNT DER ALLGEMEINE TEIL UNSERER NACHRICHTEN MIT DEM SPORT." Das "aus gegebenem Anlaß" ärgerte mich ganz besonders. Natürlich schaltete ich sofort aus, haute in hilfloser Wut kraftvoll mit der rechten Faust in die linke Handfläche; und dann, wie oben angedeutet, um wenigstens nicht so ganz blöd und hilflos und tatenlos zu bleiben schaltete ich den Computer ein, um vorliegendes zu tippen... Wat soll’s. Wat kann man von einer solchen Menschheit erwarten? Nichts kann man erwarten.

Von biederen Energieberatern und alternativen Chaoten

27. Januar 1991

zwischendurch - d.h. grad vorhin - kurze Fernsehexkursion. Am Golf2 alles ruhig; bei RTL geriet ich in den Anfang von Tutti Frutti; grad recht, um mir die beiden Kandidaten anzuschauen. Merkwürdig... Sie eine bieder wirkende Hausfrau, er ein solider Energieberater, der empfiehlt, Solaranlagen aufs Dach zu setzen. Vor zehn Jahren war solches noch nicht bieder; damals war es das Privileg alternativer Chaoten, über Energiesparen und Solaranlagen zu sprechen. Vor zehn Jahren wäre es einem soliden Menschen auch noch nicht eingefallen, sich vor Fernsehkameras ganz einfach auszuziehen. Heute iss alles anders. Heute beschäftigen solide Menschen sich mit Solarenergie und ziehen sich vor Fernsehkameras aus...

Von einem Fußballspiel
und dem Fall der Berliner Mauer

Tagebuchaufzeichnung 10.November 89

(nicht direkt vorm Fernseher getippt, sondern ein Tag später)

Gestern wurde die Berliner Mauer geöffnet.

Ein beachtliches Ereignis, fürwahr. Ein historisches.

Gerüchteweise davon gehört habend, luden wir uns abends um halb 11 bei dem Besitzer eines Fernsehgerätes zu den "Tagesthemen" ein. - Da sich irgendein noch geschichtsträchtigeres Fußballereignis dazwischengeschoben hatte, ließen die Tagesthemen auf sich warten. Auf dem Bildschirm liefen Leute einem Ball hinterher; und immer wieder ertönte, als sattsam bekannte Fanfare unseres zeitgenössischen kulturellen Lebens, das kraftvolle, vielstimmige "Hä-ä-ä-ä-ääääää." Auch gesprochen wurde zwischendurch. - Ich reparierte derweil das Bett unseres Gastgebers, welches kurz vor unserem Eintreffen zusammengebrochen war; und als die "Tagesthemen" dann doch noch begannen (das Fußballereignis war wohl nicht wichtig genug, um sie völlig zu verdrängen) war ich eben fertig damit. - Während unser Gastgeber die Matratze und das Bettzeug wieder auflegte, schauten wir uns die "Tagesthemen" an, im Verlaufe welchselbiger wir wiederholt darauf aufmerksam gemacht wurden, daß es sich in der Tat um einen historischen Tag handelt. Als die Tagesthemen dann zu ende waren gingen wir schlafen.3

Neujahrsnacht 91/92 in Wolgograd
nach Auflösung der Sowjetunion

(Aus einem nachträglich geschriebenen Brief; also nicht unmittelbar vorm Fernseher getippt)

In Russland Notiertes

Sonntag, den 12. Januar 1992

Neujahr hab ich dieses Jahr zweimal hintereinander gefeiert; und zwar zuerst nach Wolgograder Zeit, und eine Stunde später dann nochmal nach Moskauer Zeit. In kleinem Kreis, bei Freunden; entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten: vorm Fernseher. Zuerst lief der Wolgograder Sender; und als dort Neujahr durch war schalteten wir um auf den Moskauer und harrten dem nächsten Jahreswechsel.

Diese Neujahrsfete am Fernseher war nicht einmal so uninteressant. Im Gegensatz zu den westlichen Neujahrsprogrammen war da kaum ausgearbeitete Gekünsteltheit (trotz offensichtlichen Bemühens, selbige nachzuahmen). Die Conferenciers wandten sich, halb im Scherz, halb im Ernst, an die "ehemaligen Genossen" und die "ehemaligen Bürger der Sowjetunion"; und keinerlei Versuch, die Probleme hinter irgendwelcher glänzender Fassade zum Verschwinden zu bringen; sie wurden angesprochen; und es schwang - nicht gekünstelt, sondern echt - die Zuversicht mit, daß, wie ernst auch immer die Lage sei, man schon irgendwie damit fertig werde. Eine erfrischende Offenheit und Ehrlichkeit, wie sie auch hier am Fernsehen immer seltener wird. Aber zu Neujahr lebte sie nochmal auf... - Die Show-Einlagen waren von wohltuender unfreiwilliger Komik; da paßte überhaupt nichts zusammen. Ein langhaariger, etwas fülliger junger Mensch, den man sich seinem Auftreten nach als Verkehrspolizist oder als Platzanweiser im Kino vorstellen könnte, sang in einer sehr schwülstigen Melodie ein Lied mit sehr sachlichem Text über Liebe, Schicksal und Abschied; und was es sonst in der Richtung noch so gibt; und unterstützt wurde diese Sachlichkeit durch seine Bewegungen, die, wie gesagt, an die eines Verkehrspolizisten oder eines Platzanweisers erinnerten. Bei fachmännischer Ausarbeitung von Text, Musik und Vortrag in der unfreiwillig eingeschlagenen Richtung käme ein ausgezeichnetes Groteskical zustande. - All dies in wohltuendem Kontrast zu den zum Glück noch nicht erreichten westlichen Vorbildern, wo in ausgeklügeltem professionellem Raffinesse ein glattes Gespinst aus Dummheit gewoben wird, das auch nicht den geringsten Durchschlupf zum Menschlichen mehr frei läßt.

Die Neujahrsnacht verbrachte ich im Stadtzentrum von Wolgograd; wohnen tat ich so ca. eine Straßenbahnstunde im Süden der Stadt. Man fährt an kleinen Siedlungen aus bunten, zum Teil windschiefen Holzhäusern vorbei; überall Steppengras... Diese Strecke fuhr ich auch am Neujahrsmorgen. Irgendwo stieg eine Gruppe angetrunkener junger Leute zu. Die begannen nun aber nicht etwa zu randalieren, sondern sangen - sogar recht diszipliniert - im Chor alte Volkslieder; und zwischendurch wünschten sie ein frohes neues Jahr und fragten, warum wir alle so ernst sind. - Insgesamt ist die Stimmung in dieser Gegend besser als in Moskau. Auch die Strassen sind nachts wesentlich sicherer; möglicherweise sogar sicherer als Dortmund... - Apropos Randalieren: Einmal hörte ich in der Moskauer Metro ein vielstimmiges Gegröle. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, daß ich das in Rußland zum ersten mal höre und daß den Russen diese Art von Zusammenrottungen fremd zu sein scheint; und wie ich näher hinhörte merkte ich denn auch, daß da in deutsch gegrölt wurde...

***

(Nachbemerkung viele Jahre später: Wenn ich an jene Zeit diffuser Aufbruchshoffnungen zurückdenke und mir den anschließenden Verfall – den ich teilweise aus nächster Nähe miterleben durfte – vergegenwärtige, packt mich das Grausen. Wer kann ermessen, was da für Chancen verpaßt wurden...)

1) Sicherheitshalber sei angemerkt, daß es sich hierbei nicht etwa um das Golfspiel handelt, sondern um einen dieser von Zeit zu Zeit am persischen Golfe abgehalten werdenden Golfkriege
2) Auch hier gemeint: der persische Golf, woselbst zu dem Zeitpunkt also alles ruhig war. Das heißt, geschossen wurde natürlich; immerhin war ja Krieg, und im Krieg wird bekanntlich immer geschossen; jedoch zu dem Moment offenbar nicht so sehr, als daß man westliche Fernsehzuschauer damit hätte behelligen dürfen.
3) Det war alles tatsächlich so, und der Tagebucheintrag ist unverändert so belassen, wie er am Tage nach jenem Ereignisse hingetippt wurde. Und da im Weiteren sehr vieles an dieser sogenannten Wiedervereinigung meinem Empfinden nach eine gewisse Fußballplatzatmosphäre atmete, seh ich in alldem sogar ein gewisses Moment von Prophetie (inwieweit auch das zusammengebrochene Bett in diese Prophetie einbezogen sein könnte, kann ich nicht beurteilen, da mir hierzu die nötigen zeichendeuterischen Voraussetzungen fehlen)
Raymond Zoller