Die Klamurke Belletristik

Der Faßbeschwerer

a) Ein Zwischenfall am Hofe des großen Königs

Der Große König hob die linke Hand und zog an der Schelle.

Die Schelle bimmelte.

Worauf der Hofstaat zusammenströmte; und der diensttuende Herold sprang auf sein Faß und verkündete, daß der Große König gebimmelt hat.

Ein zweites Mal ertönte die Schelle, und wieder verkündete der Herold, der Große König habe gebimmelt.

Die Menge verharrte in andächtigem Schweigen.

Und der Herold verharrte auf dem Fasse und schien auf irgendetwas zu warten.

Doch nichts geschah.

Die Menge schwieg und schwieg. Der Herold stand und stand.

Lange, sehr lange währte das Schweigen der Menge und das Stehen des Herolds.

Doch dann unterbrach der Herold plötzlich sein Stehen und sprang mit einem Satz von dem Fasse hinunter auf die Erde.

Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, wie auch schon der Hofstaat in Bewegung kam. Es murmelte und lachte, schlurfte und raschelte; wie nach einem Theaterstück oder Konzert, wenn das Fallen des Vorhangs dem Publikum verkündet, daß es nun frei ist und sich entfernen darf, wohin es einem jeden beliebt.

Doch dann bimmelte plötzlich die Schelle ein drittes Mal.

Das Gemurmel und Geraschel verstummte. Der Herold sprang zurück auf sein Faß; doch da der Faßbeschwerer seinen Arbeitsplatz inzwischen verlassen hatte, kam das Faß, dessen Schwerpunkt nach Herauskriechen des Faßbeschwerers wieder in die Höhe geschnellt war, ins Rollen und überrollte, während der Herold mit einem lauten Plumps zu Boden fiel, ein Hoffräulein sowie den Schoßhund der Gräfin Kaualolla.

Der Faßbeschwerer lief dem enteilenden Fasse nach, brachte es zum Stillstand und rollte es hastig zurück zu dem Platze, wo es eben noch gelegen; wobei er ein zweites Mal den Schoßhund der Gräfin Kaualolla sowie ein weiteres Hoffräulein überrollte. Während der Schoßhund der Gräfin Kaualolla wirr durch die Menge lief und in alle Waden hineinbiß, deren er habhaft werden konnte, brachte der Faßbeschwerer das Faß an seinem angestammten Platze zum Stehen und kroch, wie es sich gehört, hinein. Der Herold aber sprang hinauf auf das Faß und verkündete, der Große König habe zum dritten Male gebimmelt.

b) Warum es Faßbeschwerer geben muß

Die Herolde des Großen Königs übten ihren Dienst nicht – wie bei anderen Königen üblich – auf stehenden Fässern aus, sondern auf liegenden. Der Große König hatte das so angeordnet; und da der Große König es so angeordnet hatte, ging man davon aus, daß es anders nicht sein kann. Denn was wäre das für ein König, dessen Anordnungen nicht den Kern der Sache treffen und die genausogut anders lauten könnten? Und wenn andere Könige es anders machen, so kommt das daher, daß das fremde Exoten sind und weitaus weniger unfehlbar als der Große König.

Einige ehrfurchtslose rebellisch gestimmte Untertanen, die sich nicht scheuten, die Anordnungen ihres Königs zu hinterfragen, kamen zu der Erkenntnis, daß ein liegendes Faß leichter zum Orte seiner Verwendung befördert werden kann als ein stehendes, und daß im Weiteren das Aufrichten eines herangerollten Fasses länger dauert, als ein geübter Faßbeschwerer braucht, um in einem liegendes Faß seinen Platz einzunehmen; so daß wohl alles seine Richtigkeit hat.

Das Amt des Faßbeschwerers verdankt sein Entstehen dem Umstand, daß ein liegendes Faß, im Gegensatz zu einem stehenden, beim Besteigen davonzurollen pflegt, es sei denn, es wird durch entsprechende Vorkehrungen an solchem gehindert. Und die Vorkehrung, mit welcher am Hofe des Großen Königs das Davonrollen eines bestiegen werdenden liegenden Fasses verhindert wurde, bestand darin, daß vor dem Besteigen der Faßbeschwerer hineinkroch.

Die erwähnten ehrfurchtslosen rebellisch gestimmten Untertanen wagten im Weiteren darüber nachzudenken, ob es denn nicht einfacher und sicherer wäre, das Faß, statt durch einen Faßbeschwerer, durch zwei zu beiden Seiten des Fasses auf der Erde liegende Bedienstete zu sichern, und kamen zu dem Schlusse, daß es zweifellos übersichtlicher ist, wenn eine einzelne Person für alle Belange eines Fasses die Verantwortung trägt; und diese einzelne Person kann man dann auch, aufgrund der konzentrierten Verantwortung, als Würdenträger betrachten, während zwei als Bremsklötze dienende Bedienstete immer nur Bedienstete bleiben.

c) Warum ein Faßbeschwerer nicht nur Verantwortungsbewußtsein, sondern auch das richtige spezifische Gewicht haben muß.

Die Aufgabe des Faßbeschwerers besteht darin, das Faß, auf dem der Herold zu stehen hat, an den Ort seiner Verwendung zu rollen, es im Weiteren durch sein Gewicht am Davonrollen zu hindern sowie sonstige Vorkehrungen zu treffen, damit der Herold während seiner Ansprache nicht herunterfällt. Diese Aufgaben stellen an den Faßbeschwerer ganz bestimmte Anforderungen: und zwar muß er kräftig sein und geschickt, um das Faß richtig zu rollen, um schnell hinein- und hinauszukriechen sowie durch ständige Gewichtsverlagerungen den auf dem Fasse stehenden Herold in der Balance zu halten. Außerdem muß er, ohne dick zu sein, möglichst viel Gewicht sein Eigen nennen; das heißt, in andern Worten: er muß über ein hohes spezifisches Gewicht verfügen. Ist der Faßbeschwerer zu dick, so liegt der Schwerpunkt des von ihm beschwerten Fasses zu nahe an dessen Achse; und ist er gar so dick, daß seine Körperachse mit der Faßachse zusammenfällt, so erreicht er mit seinem Hineinkriechen sogar das genaue Gegenteil dessen, weswegen sein Amt geschaffen wurde: Nämlich sichert er in solchem Fall nicht nur nicht das Faß gegen ein Davonrollen, sondern erschwert sogar – da er die Masse vergrößert – ganz beträchtlich das Zumstillstandbringen eines gesetzeswidrig ins Rollen gekommenen Fasses.

d) Warum der Faßbeschwerer dem Herold das Trinken verbieten darf.

Fällt der Herold vom Fasse, so haftet der Faßbeschwerer. Deshalb liegt es im Interesse des Faßbeschwerers, alles von dem Herolde fernzuhalten, was einen Anlaß geben könnte zu dessen Herunterfallen; und da der Große König, dem die Logik nicht fremd ist, dafür Sorge trägt, daß ein Verantwortungsträger in dem Bereich, für den er Verantwortung trägt, über genügend Handlungsspielraum verfügt, – gibt er dem Faßbeschwerer weitreichende Befugnisse zum Eingreifen in die dienstlichen, aber auch privaten Belange des Herolds. So ist zum Beispiel bekannt, daß ein betrunkener Herold leichter vom Fasse fällt als ein unbetrunkener; weswegen der Faßbeschwerer daran interessiert sein muß, den Alkoholkonsum des Herolds weitgehend einzuschränken oder gar vollständig zu unterbinden; und konsequenterweise ist, laut Anordnung des Großen Königs, der Faßbeschwerer Herr über Trinken oder Nichttrinken seines Herolds.

e) Warum der Faßbeschwerer begnadigt wurde

Der Große König verfiel ob des Herunterfallens des Heroldes in großen Zorn; und schon wollte er den Faßbeschwerer ins Gefängnis werfen lassen, als er von irgendwo erfuhr, daß selbiger eine im ganzen Reiche für ihre Schönheit bekannte Tochter sein Eigen nannte.

Deshalb begnadigte er den Faßbeschwerer und ließ dafür dessen Tochter in seine Gemächer bringen. Die Tochter aber gefiel dem Großen König so gut, daß er sie eine Woche später ehelichte und den Faßbeschwerer, als seinen Schwiegervater, in den erblichen Adelsstand erhob.

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


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Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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