Die Klamurke Belletristik

Wie ich den König vom Pferd schubste

Einst kam ich auf meinen Wanderungen in ein fernes Königreich, welches jenseits der sieben Berge liegt; und wie ich so durch die Straßen schlenderte, da gewahrte ich einen König, der mit seinem Gefolge daherkam. Das Gefolge war zu Fuß; der König aber saß zu Pferde und ritt voran. Ich stutzte. Was sitzt, dachte ich, dieser faule König auf seinem Pferd, und die andern müssen hinterherlaufen? Warum läßt er nicht jemand anders reiten? Zum Beispiel diesen Minister mit dem dicken Bauche, der schwitzt und sich dahinschleppt unter der Last seines Leibes? Warum darf der nicht aufs Pferd? Oder jenes zarte Hoffräulein, das vor unseren Augen die Schleppe ihres Rockes die Straße entlangzieht: Warum nicht sie? Warum muß sie ihr edles Gewand dem Schmutze der Straße preisgeben? Wie schön säh es aus und wie lieblich, wenn sie vor uns dahinritte, und die Schleppe ihres Rocks würde anmutig zart durch die Lüfte sich winden! — So aber sitzt der König zu Pferd, und die andern müssen laufen. Ist das gerecht? Nein, es ist nicht gerecht. Wo kämen wir hin, wenn alle Könige so wären? Anarchie würde herrschen, die reinste Anarchie! Die faulen Könige würden immer nur zu Pferde sitzen, und die andern müßten hinterherlaufen. So kann das nicht bleiben!

Und ich ging hin und schubste den König vom Pferd.

Der König aber, wie er auf der Erde angekommen und sich das Geschehene vergegenwärtigt hatte, hub mit lauter Stimme zu schreien an:

"Hört, ihr Knechte, meinen Befehl und säumet nicht, ihn zu erfüllen! Ein Unrecht ist geschehen, ein schreckliches Unrecht! Seht den Missetäter hier, den frechen, der mich in frevelndem Übermute vom Pferde geschubst! Schwärmt aus und fangt ihn ein; und so ihr ihn habt, legt ihn in Ketten und führt ihn vor meinen Thron, auf daß er die Strafe erhalte, die ihm gebührt!"

All dies hatte der König im Liegen gerufen; und nachdem er vergeblich versucht, wieder hochzukommen, fügte er noch hinzu: "Doch zuvor leget Hand an, die Folgen jenes Streichs zu beseitigen und mir wieder auf die Füße zu helfen und auch aufs Pferd." Und hilfesuchend streckte er seine Arme in die Höhe.

Wie groß war mein Unmut, als ausgerechnet der dicke Minister und das zarte Hoffräulein diese Arme ergriffen und dem König auf die Beine halfen; doch ließ ich alles geschehen, ohne einzugreifen. Zwei Bedienstete, die mir Ketten anlegen wollten, vertrieb ich, indem ich einen von ihnen mit einem Faustschlag zu Boden streckte; woraufhin der eine sofort enteilte und der andere, etwas langsamer, hinterherkroch; ansonsten verhielt ich mich ruhig und abwartend. Als dann aber der Minister und das Hoffräulein Anstalten machten, dem König auch noch aufs Pferd zu helfen, da trat ich dazwischen. Ich schubste den König beiseite und hob mit einer galanten Bewegung statt seiner das Hoffräulein in den Sattel. Und in der Tat: Ich hatte mich nicht getäuscht! Gut sah es aus, von außerordentlichem Liebreiz, wie sie hoch oben im Sattel saß und sich, leicht erstaunt, an der Mähne festhielt.

Der König aber hub mit sich überschlagender Stimme zu wüten an: "Ihr Knechte, ihr meine Knechte; ich sehe, ihr habt es versäumt, meinem Befehl in treuer Gefolgschaft Folge zu leisten! Was säumet ihr, diesen Missetäter dingfest zu machen? Muß ich alles zweimal sagen? Warum steht ihr untätig herum und schaut, ohne euch zu rühren, zu, wie auf die erste Missetat gleich eine zweite folgt? Wollt ihr warten, bis er noch eine dritte begeht oder eine vierte? Oder gar noch eine fünfte? Habt ihr vergessen der Pflicht, die gegeben durch eure Geburt und die euch heißt, mir zu dienen? Habt ihr all dies vergessen? Wollt ihr, daß ich euch in Ketten legen laß? Oder Befehl geb, euch an den Beinen aufzuhängen?"

Also wütete der König mit lauter Stimme. Ich stand derweil abseits und achtete nur darauf, daß niemand mir zu nahe kam. Sicher wäre es amüsant gewesen, all die vielen Leute und vor allem die Hoffräuleins an den Beinen aufgehängt zu sehen; doch sogleich verwarf ich diesen Gedanken. Nur um des anregenden Schauspiels Willen der Willkür dieses Königs freie Bahn zu lassen wäre unter meiner Würde. Stattdessen packte ich ihn am Kragen und sagte, ich würde mir solches Reden verbitten. Er könne von mir aus in Ketten legen und an den Beinen aufhängen lassen, wen er will; nur nicht in meiner Gegenwart; sonst bekäme er es mit mir zu tun. Und was meine Person betrifft, so sei ich kein Missetäter, sondern ein Revolutionär; und ich würde ihm fürderhin verbitten, mich, wie vorhin geschehen, zu beleidigen. — Der König, der furchtbar erschrocken war, fragte schüchtern: "Ein Revolutionär? Was ist das?" — "Einer, der für soziale Gerechtigkeit kämpft", antwortete ich grimmig. Der König erschrak noch mehr; und in verzweifeltem Mute rief er: "Sowas kann ich in meinem Reiche nicht dulden!" — "Solange ich hier bin bleibt dir nichts anderes übrig", sagte ich versöhnlich und ließ ihn los. Er fing an, mir leid zu tun. Warum soll er nicht auf seinem Pferde sitzen? — Der König wich ein paar Schritte zurück und wandte sich dann mit lauter Stimme an sein Gefolge: "Wollt ihr, meine Knechte, nun endlich meinem Befehle nachkommen und den Missetäter dingfest machen?" — Dieser Ausfall ärgerte mich. Ich wollte ihn wieder packen; doch er entwich; und ich ließ schließlich von ihm ab, da es mir unwürdig schien, mit einem vom Pferde geschubsten König Fangen zu spielen. Im Gefolge wurde Murren laut. "Befehlen kannst du deinesgleichen", rief der Mann, den ich vorhin zu Boden gestreckt. Er stand schon wieder ganz tapfer; wenn auch, scheint's, etwas unsicher. — "Auf einem Pferd faul vor uns her reiten, und dann auch noch befehlen!" murrte ein anderer. "Jetzt aber sitzest du nicht mehr zu Pferd!" rief ein Hellebardenträger, der ganz vorne stand. — "Du bist nicht mehr unser König! Der Fremde soll König sein!" — "Der Fremde sei König! Der Fremde sei König!" — riefen plötzlich alle durcheinander.

"Ich nehme die Wahl an", sagte ich kurz entschlossen und ließ sogleich den alten König in Ketten legen. Dann hob ich mit einer eleganten Bewegung das Hoffräulein wieder vom Pferd und stieg selbst in den Sattel; und da sie dem abgesetzten König auf die Beine geholfen ließ ich auch sie und den dicken Minister in Ketten legen. Als wir im Schlosse ankamen gab ich sogleich Befehl, die dreie an den Beinen aufzuhängen; was sehr neckisch aussah. Besonders dem Hoffräulein stand es ausgezeichnet; besser noch, als zu Pferde zu sitzen. Doch wurde es auf Dauer langweilig, und ich ließ sie wieder abnehmen. Man soll die Leute nicht unnötig quälen! Den Minister setzte ich sogleich wieder in sein Amt ein, und den König verwies ich des Landes; nicht ohne ihm genügend Proviant mit auf den Weg zu geben, damit er nicht hungere.

Das Hoffräulein aber heiratete ich; und wir lebten glücklich und zufrieden bis zu dem Tag, da es mich in neue und noch fernere Länder zog.


"... Aus diesem Machwerk geht eindeutig hervor, daß der Schreiber weder Könige noch Revolutionäre ernstzunehmen vermag.

Was uns bedenklich stimmt."
(Balthasar Kuckuck im «Blatt für Geist und Literatur»)




© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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