Die Klamurke Belletristik

Die Schlossbesichtigung

Nach Verlassen des Schlosses merkten wir plötzlich, daß Aita fehlte. Wir wandten uns um; und siehe: sie war nirgends zu sehen.

Vielleicht hat sie sich in den wirren Gängen und Gewölben verlaufen? Zwar ist es nicht ihre Art, sich zu verlaufen; aber möglich ist alles.

Wir gingen zurück, um sie zu suchen. Und konnten nicht verstehen, warum man uns nicht mehr in das Schloß hineinlassen wollte. Ein grimmiger Wächter stand da, in wohlgebügelter Uniform und mit einem Pistolenhalfter, aus dem der Knauf einer Pistole ragte. Was macht ein Schloßwächter mit einer Pistole? Vorhin war dieser Wächter nicht da. Oder vielleicht war er da; aber nicht in solch bedrohlicher Uniform und nicht mit Pistole. Die Uniform mit der Pistole war zugegen; ganz egal, wer drin steckte.

Der Wächter, der uns nicht hineinlassen wollte, telefonierte mit irgendwem, sagte "In Ordnung" und legte den Hörer auf. Dann erklärte er uns, bei der vermißten Person handle es sich vermutlich um die junge Dame, die wegen ungebührlichen Aufzugs festgenommen wurde. Ob unsere Bekannte lange Beine hat? – Ja, lange Beine hat sie; sie ist dafür bekannt, daß sie lange Beine hat. – Ob sie blond ist? – Ja; zur Zeit ist sie blond. Langes blondes Haar. – Und einen sehr kurzen Rock habe sie getragen und eine fast durchsichtige Bluse? – Sie trägt meist kurze Röcke, und ihre Blusen sind entweder extrem dekolletiert, oder extrem durchsichtig. – Unter der Bluse habe sie einen dunklen Büstenhalter getragen, und auch der Büstenhalter sei durchsichtig gewesen? – Richtig. – Wegen des kurzen Rockes und der durchsichtigen Bluse habe man sie festgenommen, weil sie nämlich damit öffentliches Ärgernis erregt habe.

Ich entgegnete, daß die Beine und die Brüste von Aita zwar manchmal für Aufsehen sorgen; daß ich jedoch noch nie gehört habe, daß man sich über sie geärgert hätte. Oder höchstens irgendwelche Matronen, die keine so schönen Beine haben und neidisch sind.

Der Wächter grinste und sagte, das mit der Erregung öffentlichen Ärgernisses sei in der Tat eine dehnbare Formel; er selbst hätte durchaus seine Freude an wohlgeformten Frauenbeinen; und den meisten seiner Kollegen gehe es in dieser Hinsicht ähnlich; doch sei es weder seine noch seiner Kollegen Angelegenheit, über die Anwendung des Etiketts "öffentliches Ärgernis" zu philosophieren; ihre Aufgabe bestehe darin, bei Vorliegen bestimmter Tatbestände die entsprechend vorgeschriebenen Maßnahmen zu ergreifen. Laut Vorschrift müsse der Rock mindestens zwei Drittel des Oberschenkels bedecken, und die Brüste müssen so bedeckt sein, daß die Spitzen nicht sichtbar sind. Wie seine Kollegen berichten, haben an der Rockeslänge anderthalb Zentimeter gefehlt, und die Brüste hätten für den aufmerksamen Betrachter praktisch offen gelegen. Die anderthalb Zentimeter unbedeckten Oberschenkels und die ungenügend abgedeckten Brüste aber hätten laut Dienstvorschrift öffentliches Ärgernis erregt. De facto hätten zwar seine Kollegen ihren Plausch daran gehabt und sich keineswegs geärgert; doch das sei alles nicht von Belang, da es im Prinzip ja nur darum gehe, daß man seine Pflicht tut und daß der Vorschrift Genüge getan wird. Und zudem sei es weitaus reizvoller, in Ausübung seiner Pflicht eine langbeinige Schöne festzuhalten als eine alte Matrone.

Mit letzterem mußte ich ihm Recht geben, und ich gab zu, daß ich an Stelle seiner Kollegen genau die gleichen Vorlieben entwickeln würde. — Auf meine Frage, warum man sie in dem kurzen Rock und der durchsichtigen Bluse denn überhaupt hineingelassen hat, antwortete der Wächter, daß die neuen Vorschriften zu einem Zeitpunkt in Kraft traten, als wir bereits drinnen waren. Doch auch laut den neuen Vorschriften hätte man sie trotz des kurzen Rockes hereingelassen; das Betreten des Schlosses in ungebührlicher Bekleidung sei nach wie vor erlaubt; und niemand könne das mehr begrüßen als er; denn er sei ein leidenschaftlicher Verehrer weiblicher Schönheit und halte es für unangemessen, einen schönen Körper über Gebühr bedeckt zu halten; seinem Dafürhalten nach müsse man als ungebührliche Bekleidung eben eine solche Bekleidung bezeichnen, die zuviel bedeckt. Doch sei das seine private Meinung; laut Vorschrift gelte als ungebührliche Bekleidung eine solche, die zu wenig bedeckt. Beim Hereingelassenwerden spiele das aber keine Rolle; wohl aber beim Hinausgelassenwerden: Wer in ungebührlicher Bekleidung angetroffen wird, werde nicht mehr hinausgelassen.

Ich stritt nicht ab, daß es durchaus angenehm sein kann, solche öffentliches Ärgernis erregende Geschöpfe in seiner Obhut zu behalten, gab sogar zu, daß ich ihn wegen seiner Arbeit beneide; doch andererseits könne man Aita wegen des anderthalb Zentimeter zu kurzen Rockes und der Offenlegung ihrer Brüste nicht bis ans Ende ihrer Tage im Schlosse gefangen halten.

„Solches ist nicht vorgesehen“, – antwortete der Uniformierte. „Irgendwann wird man sie wieder hinauslassen...“

„Und wann wird man sie wieder hinauslassen?“

„Weiß ich nicht“, – zuckte der Uniformierte die Achseln.

„Und was geschieht nun mit ihr?“

„Das scheint Sie ja sehr zu interessieren?“

„Ja“, – bestätigte ich. „Das interessiert mich.“

Der Wächter hob den Hörer, wählte eine Nummer und führte dann in unverständlichem Kauderwelsch mit irgendwem ein unverständliches Gespräch. Dann legte er den Hörer gemächlich auf die Gabel, stand auf und sagte jovial: „Dann kommen Sie mal mit...“

„Sind wir auch verhaftet?“ – fragte ich irritiert.

„Nö, wieso?“ – wunderte sich der Wächter. „Ich denke, Sie wollen sehen, was mit Ihrer Bekannten passiert?“ — Und grinsend fügte er hinzu: „Verhaftet werden bei uns nur öffentliches Ärgernis erregende junge Damen.“

„Und was passiert mit ihr?“ – wiederholte ich meine Frage.

„Was möchten Sie, daß mit ihr passiert?“ – fragte der Wächter. — Er öffnete eine klobige Holztür, hinter der eine enge nach unten führende Treppe sichtbar wurde.

„Wenn ich recht verstehe, ist das, was wir möchten, hier nicht von Belang, da das, was mit ihr geschieht, nicht von uns abhängt“, – antwortete ich.

„Und wenn es doch von Ihnen abhängen würde?“

„Dann würde ich veranlassen, daß man sie sofort frei läßt!“

„Das sind Oberflächlichkeiten...“ – winkte der Wächter ab. „Wenn Sie genauer in sich hineinschauen würden, würden Sie ganz anders sprechen.“ — Er betrat die steil nach unten führende Treppe und machte Zeichen, ihm zu folgen.

Beim Hinuntersteigen blickte ich kurz in mich hinein und verstand, daß er Recht hatte. Was soll man, wenn einem plötzlich Macht über ein solch rassiges weibliches Wesen zufällt, diese Macht nicht mißbrauchen? — Klein wenig beunruhigte mich, wie Aita das wohl selbst sehen mag; doch alle Skrupel wurden durch die Faszination und den fast metaphysischen Schauer dieser außergewöhnlichen Situation hinreichend in Schach gehalten. Ein Sakrilegium wär’s, diese unvermittelt aufgebrochenen prickelnden Möglichkeiten dadurch, daß man Aitas Freilassung fordert, ungenutzt in der Alltagsbanalität versanden zu lassen.

Trotzdem sollte man, bevor man einen Entschluß faßt, herauszufinden suchen, wie Aita selbst das sieht.

Während wir unten durch einen endlos langen Gang dahingingen, sagte ich dem Wächter, daß er Recht hat und daß ich eine Freilassung tatsächlich nicht für erstrebenswert halte. Ich sei nur im ersten Moment meiner guten Erziehung zum Opfer gefallen.

„Die verdorrten und faulen Früchte unserer Erziehung müssen wir durch lebendiges Denken mutig außer Kraft setzen!“ – brummte der Wächter. „Wir müssen mehr philosophieren; dann wird alles gut. Nämlich ist Philosophie der Weg, auf dem wir die Fehler, die bei unserer Erziehung gemacht wurden, ausmerzen. – Letzteres übrigens nicht von mir, sondern von Novalis.“

„Wo kämen wir hin ohne unsere Philosophen...“ – bemerkte Rherry, der bis jetzt geschwiegen hatte. „Auch ich konnte mich nur mit Mühe den durch meine Erziehung angelegten Banden entwinden. Doch fürwahr eine interessante Situation! Was soll man sie durch das, was man gelernt hat, verpantschen? – Hängt das, was mit ihr geschieht, tatsächlich von uns ab?“

„Ich würd’s nicht ausschließen“, – antwortete der Uniformierte unbestimmt. Er öffnete eine Tür, wies uns hinein; und – an der gegenüberliegenden Wand stand, Hals und Hände von den Balken eines Prangers umfaßt – Aita. Den linken Fuß hielt sie in Kniehöhe an die Wand gestützt, während der rechte mit einer klobigen Fußschelle am Fußboden festgekettet war.

„Hallo“, – begrüßte sie uns.

„Hallo“, – antwortete ich. „Wir haben dich gesucht.“

„Und nun habt ihr mich gefunden.“

„Ein ungewohnter Anblick“, – sagte Rherry.

„Es wäre langweilig, wenn immer alles so wäre, wie man es gewohnt ist“, – antwortete Aita. „Das Gewohnte ist die Fessel, die uns an die Banalität des Alltags kettet.“

„Auch du stehst angekettet“, – warf ich ein.

„Aber nicht an der Banalität des Alltags“, – erwiderte sie schnippisch.

„Fürwahr keine Spur von Banalität!“ – rief Rherry. „Der Pranger steht dir gut!“

„Danke“, – lächelte Aita.

„Und was wird weiter mit dir geschehen?“ – fragte ich. „Was hat man mit dir vor?“

„Ich weiß nicht, was man mit mir vor hat“, – antwortete Aita. „Und ich will es auch nicht wissen. Denn was ich weiß, ist schon da und nicht mehr neu. Ich aber liebe Überraschungen.“ — Und lächelnd fügte sie hinzu: „Was möchtet ihr, daß mit mir geschehe?“

„Wenn das Weitere von mir abhängen würde...“ — Ich biß mir auf die Lippen.

„Es hängt von dir ab“, – mischte sich der Wächter ein. „Man hat es mir vorhin bestätigt.“

„Dann laß dir mal was einfallen“, – sagte Aita.

Und ich ließ mir was einfallen. — Es wurde eine herrliche Orgie, an der sämtliche Schloßwächter, fünfe an der Zahl, teilnahmen, und bei der nicht nur das gleich neben dem Pranger stehende Streckbett, sondern auch das seit vielen hundert Jahren unbenutzte Himmelbett der einstigen Schloßherrin wieder zu Ehren kamen.

Nach der Orgie veranlaßte ich die Freilassung von Aita, und wir verließen diese gastlichen Gemächer.

Und wie es uns zwei Wochen später nach Wiederholung gelüstete, – da saß am Schloßeingang eine uniformierte ältere Matrone von beachtlicher Körperfülle; und die weigerte sich, Aita hineinzulassen. Aita trug diesmal ein knöchellanges Kleid, und ihre Bluse war keineswegs durchsichtig, sondern nur etwas stark ausgeschnitten. Eben wegen des Ausschnitts wollte sie Aita nicht hineinlassen, da dadurch, wie sie sich ausdrückte, öffentliches Ärgernis erregt werde. – Auf Aitas Bemerkung, ihres Wissens würden Erregerinnen öffentlichen Ärgernisses zwar hinein- aber nicht mehr hinausgelassen, antwortete die Matrone, davon sei ihr nichts bekannt; sie habe nur Anweisung, Frauen in ungebührlicher Bekleidung nicht hineinzulassen.

Und unverrichteter Dinge zogen wir wieder ab.

Vielleicht auch besser so, da Wiederholung bekanntlich auch das Außergewöhnliche in den Sumpf des Gewöhnlichen hinabzuziehen pflegt...

© Raymond Zoller
Zur russischen Übersetzung






Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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