Die Klamurke Belletristik

Die Beine

Gestern habe ich eine Fliege gefangen.

Die Fliege war schwarz und hatte zwei durchsichtige Flügel; und von den sechs Beinen, die ursprünglich dran waren, hatte sie, als ich sie losließ, nur noch zweie.

Ich ließ mich in den Sessel nieder und überlegte, warum Fliegen sechs Beine haben. Menschen haben zwei Beine. Spinnen haben acht. Warum hat eine Fliege ausgerechnet sechs? Das muß einen tieferen Sinn haben! Alles in der Welt hat einen tieferen Sinn; wie sollten da die sechs Beine der Fliege eine Ausnahme machen!

Ich goß mir einen Whisky ein und überlegte weiter. Leider hatte ich keinen schottischen mehr, sondern nur noch irischen, den ich sonst nur an meine Gäste ausschenke. Irischer Whisky schmeckt süß; ich aber mag's lieber herb. Trotzdem trank ich ihn. Besser als gar nichts, dachte ich. Schnecken haben nur ein Bein; und Fische überhaupt keins. Oder soll man bei den Fischen die Flossen als Beine betrachten? Ich muß darüber nachdenken. Bei den Schnecken ist das Bein so eng mit dem Körper verbunden, daß man es, anders als bei der Fliege, nicht ausreißen kann. In gewisser Hinsicht ist die Schnecke, wie immer man sie betrachtet, ganz Bein. Hat Goethe nicht Ähnliches auch von der Pflanze gesagt? Nicht Bein, sondern Blatt; aber die Pflanze hat ja auch keine Beine. Oder sollten bei der Pflanze die Blätter die Funktion von Beinen haben? Und ob man in diesem Fall die Fische, die ja weder Beine noch Blätter haben, als eine Übergangsform betrachten könnte zwischen dem Tier - und dem Pflanzenreich? Mir schien, als sei ich im Begriff, eine epochemachende Entdeckung zu machen.

Ich goß mir einen neuen Whisky ein. Schade, daß kein schottischer mehr da ist; der irische schmeckt einfach zu süß.

Es läutete. Ich ging hin und öffnete.

In der Tür stand Silvia. Sie fragte, ob sie störe; und ich antwortete, ich sei zwar mit einem wichtigen wissenschaftlichen Problem beschäftigt; doch könne ich damit auch später weitermachen. Sie kam herein; und wie groß war meine Freude, als ich sah, daß sie mir eine Flasche schottischen Whisky mitgebracht hat. Während ich ihr ein Glas Rotwein einschenkte und mir einen Whisky, fiel mein Blick auf ihre Beine. Sie hat schöne, außerordentlich schöne Beine; und die Strümpfe, die sie trug, waren durchsichtig wie die Flügel der Fliege. Dunkel waren sie zwar, viel dunkler; doch das machte sich besser, als wenn sie hell gewesen wären. Und ihr Kleid erst! Schwarz war es; schwarz wie die Nacht! Genau wie die Fliege! Wenn das kein Zeichen ist! Stolze Zuversicht schwellte meine Brust; und ich sagte ihr, daß ich im Begriff bin, eine epochemachende Entdeckung zu machen; und wenn ich richtig berühmt bin, würde ich sie heiraten.

Das war völlig im Ernste gemeint. Sie ist von den Beinen her genau die richtige für mich; denn in meiner Position kann ich mir eine Frau, die keine schönen Beine hat, einfach nicht leisten.

Ins Land des Lasters

© Raymond Zoller
Zur russischen Fassung





Diesen Text findet man, neben vielen anderen, in dem Taschenbuch

Raymond Zoller

Wie ich den König vom Pferd schubste

und sonstiges Episodisches

RaBaKa-Publishing, Edition Ivata
Erscheinungstermin: Juni 2013
Preis: 16,90 €
Seitenzahl: 196
ISBN: 978-3-940185-25-9


[Sollte der vom Pferde geschubste König über den Buchhandel nicht mehr erhältlich sein, so kann man es über den
Vertrieb des Seminar-Verlags
versuchen. Auf der durch das Link angesteuerten Seite ganz nach unten scrollen; dort findet man ihn]

Die Erzählungen kennzeichnet eine für Zoller typische inhaltliche Unernsthaftigkeit, kombiniert mit einer streng durchgestalteten Form. Die Szenen und Orte der Erzählungen reichen hinein ins Reich des Fantastischen; aber auch ganz normale Alltagsszenen weiß der Autor ins Absurde zu führen. Seine Protagonisten verhalten sich so, wie es nach Ansicht Zollers nicht allein Romanfiguren gut stände, sondern auch dem regelkonformen „Zivilisationisten“.

(Erika Reglin-Hormann)

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