Die Klamurke Belletristik

Papst Erwin IX

... Das Lepquescher Konzil konnte die Probleme nicht lösen und vergrößerte nur die Verwirrung. Und so groß war die Verwirrung und so weitreichend deren Folgen, daß sich heute nicht einmal mehr feststellen läßt, wo es überhaupt stattfand. - Manche sagen, das sei in Deuselbach gewesen. Warum es in Deuselbach gewesen sein soll, weiß man hinwiederum nicht, da die Vertreter dieser Theorie - vornehmlich Historiker aus dem Kreis des Deuselbacher Heimatkundevereins - bislang davon absahen, ihre Behauptung zu begründen. - In jüngster Zeit wurden Stimmen laut, es habe in Lepquesch an der Risl stattgefunden; eine Sichtweise allerdings, die einer eingehenden Überprüfung kaum wird standhalten können. Denn seit langem schon ist wissenschaftlich erwiesen, daß die Bezeichnung Lepquescher Konzil keineswegs mit dem Orte zu tun hat, an dem es abgehalten wurde, sondern daß es sich hierbei um eine Abkürzung handelt, deren genaue Bedeutung verlorenging. Man vermutet, daß in dieser Abkürzung die Punkte zusammengefaßt sind, die man ursprünglich hatte behandeln wollen und die dann, nach jener folgenschweren Wendung, durch andere Punkte in den Hintergrund gedrängt wurden. - Leider wurden sie dabei so gründlich in den Hintergrund gedrängt, daß man sie bis heute nicht rekonstruieren konnte; trotz allem entsagenden und hingebungsvollen Bemühen ganzer Generationen von Wissenschaftlern, sie durch Aufschlüsseln jener Abkürzung wieder ans Licht zu ziehen.

- Als Folge besagten Konzils kamen die anonymen Gegenpäpste auf, die zu allen Zeiten und von allen Regierungen auf das grausamste verfolgt wurden und die deshalb sich genötigt sahen, ihr Inkognito zu wahren. Letzteres taten sie nun so geschickt, daß uns kein einziger anonymer Gegenpapst bekannt ist, der entdeckt und bestraft worden wäre. Was für die Betreffenden natürlich von unbestreitbarem Vorteil ist; doch hat es für die Geschichtsforschung jenen schwerwiegenden Nachteil, daß über die anonymen Gegenpäpste über Gebühr wenig bekannt ist und daß man sich im großen und ganzen mit Mutmaßungen begnügen muß.

Einer dieser Gegenpäpste aber war Erwin IX.

Erwin IX wurde in einem kleinen Dorfe in der Nähe von Deuselbach geboren. In welchem genau läßt sich heute nicht mehr feststellen; es gibt in dieser Gegend sehr viele Dörfer, und es fällt schwer, das richtige herauszufinden. Doch wie immer das Dorf auch heißen mag - sicher ist, daß er dort auch aufwuchs, zur Schule ging, heiratete und Kinder zeugte.

Nebenbei übte Erwin IX den Beruf eines Gemeindeschreibers aus. Denn die anonymen Gegenpäpste müssen sich selbst finanzieren; und darüber hinaus diente solches natürlich auch der Tarnung. - Gleichfalls um der Tarnung willen entfaltete er eine rege Aktivität im Vereinsleben. Sein erster Vereinsbeitritt erfolgte kurz nach seinem 18. Geburtstag; und zwar handelte es sich dabei um die freiwillige Feuerwehr. In der Folge trat er dann nach und nach in sämtliche Vereine ein, die es im Dorfe gab; und da die bestehenden nicht ausreichten, gründete er selbst noch welche hinzu. - Dies war eine aufsteigende Linie, die drei Jahre, bis zu seinem 21. Lebensjahre, anhielt. Mit 21 war er Mitglied in restlos allen Vereinen. - Von da ab war er dann bemüht, sich in den einzelnen Vereinen eine seinem Stand entsprechende Position zu erobern; und wo ihm dies nicht gelang, trat er wieder aus. Denn als anonymer Gegenpapst konnte er es sich auf Dauer nicht leisten, in der subalternen Position eines einfachen Mitglieds zu verbleiben.

Ganze sieben Jahre zog sich, mit manchem Auf und Ab, dieser Prozeß dahin. Mit 28 war er im Fußballverein Präsident, und im Kegelklub Sekretär. Im Brieftaubenzüchterverein war er nominell Kassierer; doch ließ er diese Tätigkeit de facto durch jemand anders bewerkstelligen und hielt dafür an den Vereinsvollversammlungen in seiner Eigenschaft als Kassierer jeweils einen feierlichen Vortrag.

Im Fußballverein hatte er unter der Opposition des Müller-Toni zu leiden, der eine ständig wechselnde Anhängerschar um sich sammelte und bemüht war, ihn aus seiner Position zu verdrängen.

Manche Historiker vermuten, daß der Müller-Toni, der eigentlich Anton Müller hieß und als Lagergehilfe in der Gewürzwarenhandlung arbeitete, in Wirklichkeit Mitglied des Jesuitenordens war und daß man ihn geschickt hatte, um gegen den Erwin Störmanöver durchzuführen. - Andere Historiker wiederum hegen den Verdacht, daß es sich beim Müller-Toni auch um einen anonymen Gegenpapst handelte; wobei man in der Regel davon ausgeht, daß er Otto V war. Andere wollen in ihm gar Isidor VII sehen; doch wird eine solche Möglichkeit von der überwiegenden Mehrzahl der Fachleute abgestritten, da es laut vorherrschender Theorie einen anonymen Gegenpapst mit Namen Isidor VII nie gegeben hat. Im Allgemeinen neigt man dazu, die gesamte Isidor-Reihe, außer Isidor I, als eine jesuitische Erfindung zu betrachten, welche die Historiker verwirren soll. Einzig an der Existenz von Isidor I zweifelt niemand. Isidor I betrieb seinerzeit in Reunapf an der Risl ein kleines, aber gut geführtes Bordell, welches sehr beliebt war und auch von Historikern fleißig besucht wurde. - Andere Gegenpäpste mit Namen Isidor haben laut Ansicht der maßgeblichen Autoritäten nie existiert; was es sehr unwahrscheinlich macht, daß der Müller-Toni der anonyme Gegenpapst Isidor VII gewesen sein könnte.

Sollte der Müller-Toni tatsächlich - unter welchem Namen auch immer - ein anonymer Gegenpapst gewesen sein, so gilt es, die Gründe zu finden für sein Verhalten gegenüber Erwin IX. - Leider weiß man nicht, ob er wußte, daß Erwin ein anonymer Gegenpapst ist. Falls ja, so läßt sein Verhalten entweder auf ganz normale Eifersucht schließen, oder aber auf Meinungsverschiedenheiten bezüglich der politischen Richtung. - Wußte er es nicht, so kann man nicht ausschließen, daß er ihn des Jesuitismus verdächtigte und ihn in seine Schranken verweisen wollte.

Die Störmanöver des Müller-Toni wurden mit der Zeit immer heftiger, und seine Anhängerschar wuchs und wuchs. Sieben Jahre dauerte dieser Kampf; und dann, eines schönen Tages, mußte Erwin IX der Übermacht weichen. Der Müller-Toni nahm seinen Platz als Präsident des Fußballvereins ein; und Erwin IX blieb nichts anderes übrig, als den Ort, an dem er so lange gelebt und gewirkt hatte, für immer zu verlassen. Und keine zwei Monate waren vergangen, wie er auch schon woanders hinzog.

Leider entschwand er damit dem Gesichtskreis der Chronisten; so daß über sein weiteres Schicksal nichts bekannt ist.

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© Raymond Zoller