Die Klamurke Belletristik

Die Perestroika

vor dem Hintergrund ihrer geistigen Hintergründe

Anfang der neunziger Jahre wurde mir wiederholt von hochgeistigen Dingen zum Thema Perestroika berichtet, die es in verschiedenen hochgeistigen Zeitungen und Zeitschriften so zu lesen gibt. Selbst war ich auf solche Blätter nicht abonniert und konnte es deshalb nicht lesen; doch was man mir davon erzählte, reichte, um mich vor Neid erblassen zu lassen: Warum ist es mir, zum Teufel nochmal, nicht gegeben, auch so geistig zu schreiben? Das ließ mir keine Ruhe; und schließlich versuchte ich es auch.

Was die Perestroika ist, weiß heute jedes Kind. Sie besteht in einer Zusammenziehung der beiden russischen Wörter perez und troika; wobei perez aus hier nicht zur Debatte stehenden Gründen zu peres wurde, während die troika unverändert blieb. Wenn der Russe "perez" sagt, so meint er damit das gleiche wie der Deutsche mit "Pfeffer"; und die troika ist, wie jeder weiß, eine Troika.

Die Troika ist, wie wir alle wissen, eine primär russische Angelegenheit; ja, war sie doch über lange Zeit hinweg das Symbol schlechthin für alles Russische. Wer kennt sie nicht, die ungestüm dahinrasende Troika; und sei es auch nur am Schlusse des ersten Teils von Gogols Poem "Tote Seelen"; welches furchtbar lang ist und welches manchereiner deswegen vielleicht nicht bis zum Schlusse gelesen hat; aus welchen Gründen ihm die Gogolsche Troika entgangen sein mag; doch vielleicht kennt er dafür einige von den russischen Troikaliedern, die man auch hier hören kann und in denen aus einem Wust unverständlicher russischer Wörter immer wieder das Wort "troika" aufleuchtet; zum Beispiel: "Wott mtschittssa troika udalaja"; oder auch: "äch! rass-paschol, troika, borssaja, leti!" und noch vieles andere mehr.

Die Troika kennt jeder; und ein jeder weiß, daß sie russisch ist. Das Wort "perez" hingegen stammt ursprünglich aus dem Spanischen[1], der Pfeffer selbst aus den tropischen Gebieten Südamerikas sowie aus Ostasien; und verwendet wird er in der ganzen Welt. Gleich der Troika steht der Pfeffer für Kraft und Ungestüm; was sich auch in Redewendungen niederschlägt wie etwa: "Da ist Pfeffer dahinter" oder "eine gepfefferte Rechnung". Pfeffer kann man auf Pizza tun und auf Spaghetti, auf Steak sowie auf Leberwurst; und wo immer man ihn drauf-oder reintut ergibt sich, so man dabei das richtige Maß einhält, eine Verbesserung und Intensivierung des Geschmacks sowie eine Erhöhung der Lebenskräfte seitens des Verzehrenden. Im Gegensatz zur Troika ist der Pfeffer international; und nun erst wird uns verständlich, warum beide hier zusammengebracht wurden: Auf daß die ungestüm in russischen Weiten dahinrasende Troika sich öffne für die internationalen Belange; daß sie gewissermaßen kosmopolitisch werde; genau aus diesem Grunde brachte man sie zusammen mit dem mehr international ausgerichteten Pfeffer; und, wie wir an den zahllosen zu Hoffnung anregenden Prozessen, die unter dem Banner der Perestroika Weltgeschichte machen, sehen können: zu Recht!


[1] Nachschlagen in einem etymologischen Wörterbuch belehrte mich nachträglich, daß det so wohl nicht ganz stimmt. Aber das macht nichts.
Nachträgliche Nachbemerkung:
Gleich der Perestroika hat auch vorliegende Abhandlung über selbige eine Geschichte; und diese Geschichte ist untrennbar mit dem Erscheinen des Wilhelm von Dorten verbunden.
Als Teil einer literarisch-publizistischen Verschwörung ergab sich vor Jahren die Notwendigkeit, ebendiesen Text zu verfassen und an eines der im Vorspann erwähnten Blätter zu senden.
Der Hauptverschwörer war in der Redaktion des vorgesehenen Blattes leider zu berühmt und berüchtigt, um als Verfasser der benötigten Abhandlung in Frage zu kommen; und da tauchte dann, genau im richtigen Moment, Wilhelm von Dorten auf, der diese Aufgabe übernahm. Die Arbeit wurde geschrieben und an die Redaktion geschickt; und als Kontaktadresse diente die Adresse eines der Nebenverschwörer, den in jener Redaktion damals niemand kannte (pikanterweise wurde sehr viel später jener Nebenverschwörer, den damals niemand kannte und der deshalb als unverdächtige Kontaktperson fungieren konnte, zum Chefredakteur ebenjenes Blattes ernannt).
Eine Reihe keimhaft angedachter Sensationsmeldungen, die man im Zuge jener Verschwörung hatte lancieren wollen, fanden im Weiteren, in verwandelter Gestalt auf die Spitze getrieben, Eingang in einen biographischen Abriß des Wilhelm von Dorten.
Die Sendung blieb ohne Antwort, und die Verschwörung blieb schon im Ansatz stecken. Doch Wilhelm von Dorten ist nun da und nicht mehr wegzudenken.

Noch nachträglichere Nachbemerkung:
Inzwischen tauchte auch der Brief wieder auf, der besagtes Werk in die besagte Redaktion begleiten durfte:

An die
Redaktion Info3
[…]

Dortmund, den 10. Juni 1990

sehr geehrte Damen und Herren von der Info3-Redaktion,

zufällig fiel mir die zu Ihrem Blatte im Verhältnis der Konkurrenz stehende Zeitschrift „Das Goetheanum“ in die Hände; bei welcher Gelegenheit ich auf eine tiefschürfende Analyse der geistigen Hintergründe der Perestroika stieß, die mich ganz außerordentlich beeindruckte.

Doch gleichzeitig ward mir schmerzhaft bewußt, daß der Autor - bei aller Fülle an geistiger Information, die er zu bringen verstand - doch einige zentrale, den allereigentlichen Hintergrund abgebende Aspekte übersehen hat.

Um diesem Mangel abzuhelfen und kulturelle Schäden zu vermeiden, wie sie durch unvollständige Information entstehen können, machte ich mich daran, das Fehlende zu ergänzen; und die Ergänzung schicke ich hiermit an Sie, auf daß Sie sie - so es in Ihrem Sinne ist - veröffentlichen.

Nun werden Sie fragen: Warum ich erwähnte Ergänzung denn an Sie und nicht an Ihr Konkurrenzblatt schicke?

Ob es nicht dort besser aufgehoben wäre?

Hierzu muß man bemerken, daß in der Sowjetunion die freie Marktwirtschaft eingeführt werden soll. Die freie Marktwirtschaft aber beruht auf dem Prinzip der Konkurrenz; und da scheint es konsequent und legitim, dieses Prinzip auch in die geistige Berichterstattung, soweit sie Russland betrifft, einfließen zu lassen; was sich unter Umständen auf dem Umwege über die geistige Welt unterstützend auswirken kann auf dem Wege erwähnter Einführung; aber auch noch ein weiterer Punkt, der dafür spricht, ist nicht zu übersehen: Unter Umständen wird sich nun seinerseits das „Goetheanum“, angestachelt durch den Konkurrenzgeist, aufmachen, die Sache noch nach weiteren Punkten durchzuforsten, die man übersehen hat; und vielleicht ergibt sich dann schon bald in freiem Konkurrenzkampf zwischen dem „Goetheanum“ und „Info3“ ein vollständiges und keiner Ergänzung mehr bedürftiges Bild von den geistigen Hintergründen der Perestroika.

mit herzlichem und freundschaftlichem Gruß
Ihr
Wilhelm von Dorten

Wilhelm von Dorten

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Wilhelm von Dorten
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© Raymond Zoller