Sehr geehrter Herr P.
Im Internet entdeckte ich Ihre Liste mit Gegenüberstellungen von Schreibweisen nach der "neuen" und der "alten" Orthographie. Ich habe aufs Geratewohl ein paar Beispiele herauskopiert und auf die Schnelle kommentiert.
Hintergrund dieser kurzen Aktion ist folgender:
Selbst bin ich Gegner dieser staatlich aufgepfropften Reform; und so sehr bin ich Gegner, daß ich bis ganz vor kurzem mir noch nicht einmal die Mühe genommen hatte, mir deren Inhalt genauer anzuschauen: weil ich nämlich nicht der Ansicht bin, daß irgendwelche Instanzen - seien es staatliche, seien es sonstige - das Recht haben, mir zu befehlen, wie ich zu sprechen und zu schreiben habe, und weil ich somit zu keinem Zeitpunkt die Absicht hatte, mich selbiger Reform unterzuordnen. (was mir natürlich leichter fällt als Ihnen; als Lehrer sind Sie natürlich dauernd der Fuchtel der staatlichen Stellen ausgesetzt. Ich beneide Sie nicht)
Ich habe nun den Eindruck, daß man bei der Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dieser "Reform" manchmal etwas zu sehr die Instanz aus den Augen verliert, um die es eigentlich geht: nämlich die Sprache selbst, und zu sehr nach den verschiedensten normgebenden Instanzen schielt. (ich weiß, daß ich leicht reden habe; als Lehrer haben Sie ja nicht das Recht, sich am Gegenstand zu orientieren: Ihre Autorität ist die vorgesetzte Dienststelle; und wenn selbige rechtsverbindlich festsetzt, daß 2x2 gleich 25 ist, so haben Sie sich gefälligst an solches zu halten)
Wer sich, ohne Schielen auf normgebende Instanzen, auf die Sprache selbst einläßt, kann unter Umständen merken, daß sie selbst die beste "Normgeberin" ist. Die chaotische Beliebigkeitsschreibweise, die offenbar als Folge der Reform aufgetreten ist, hängt wohl damit zusammen, daß die alten Krücken in Fragen gestellt wurden; und daß man, statt sich um das Gehenlernen zu kümmern, verkrampft Ausschau hält, wann denn wohl die neuen Krücken fertig sein werden (doch wird man vergeblich warten; diejenigen, die sich daranmachten, sie zu zimmern, sind meines Erachtens hierzu nicht in der Lage: sie kennen ihre Sprache nicht).
Manche der mir zu Gesicht gekommenen Neueinführungen sind von atemberaubender unfreiwilliger Komik; andere ergänzen die bisherigen Normen durch eine durchaus brauchbare zusätzliche Nuance (und wer sich nicht an Normen, sondern an der Sprache orientiert, wird wohl nach wie vor je nach Nuance beide Schreibweisen zur Anwendungen bringen); ein paar wenige stellen sogar tatsächlich Verbesserungen dar (wobei sowohl die zusätzlichen Nuancen als auch die Verbesserungen dem allgemeinen Eindruck nach wohl weniger fachlicher Kompetenz denn vielmehr der erfreulichen Tatsache ihr Erstehen verdanken, daß ein blindes Huhn auch mal ein Korn findet).
Nachfolgend auf die Schnelle zusammengetippte Kommentare sind als konkrete Illustration gemeint für das "sich orientieren an der Sprache selbst"; als Hinweis, daß es sich hierbei nicht bloß um ein abstraktes Postulat handelt (bei Lust und genügend Muße könnte ich zu jedem Paar einen Kommentar schreiben; doch das muß nicht sein)
Im Nachfolgenden die angekündigten kommentierten Beispiele:
eine funkensprühende Lokomotive - eine Funken sprühende Lokomotive
Ist eine Lokomotive so konstruiert, daß sie, den Eigenheiten ihrer Bauweise nach, dauernd Funken sprüht, so kann man sie eine "funkensprühende Lokomotive" nennen. - Oder aber: Ich stehe zu einem konkreten Zeitpunkt an einer Bahnlinie, und sehe, wie eine Funken sprühende Lokomotive vorbeirast. Die Nuance ist nur geringfügig; beide Schreibweisen sind „richtig“. Jede Variante hat natürlich ihre eigene Intonation; wer ein ausgeprägtes Gespür für Rhythmus hat wird eventuell die Variante wählen, die sich rhythmisch am besten einfügt.
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die allgemeinbildenden Schulen - die allgemein bildenden Schulen
Gesagt sei von vornherein mal, daß die getrennte Schreibweise von herzerfrischender Komik ist (man achte auch auf die jeweilige Intonation der beiden Schreibweisen!) "Allgemeinbildende Schulen" sind Schulen, die eine allgemeine Bildung, Allgemeinbildung vermitteln. "Allgemein bildende Schulen" hingegen sind im allgemeinen damit beschäftigt, zu bilden; doch tun sie darüber hinaus und zur Hauptsache noch irgendwas geheimnisvolles anderes. (man müßte genauer herausarbeiten, warum das so ist; könnte ich bei Bedarf auch tun; doch denke ich, daß bei genauem Hinhorchen auf die Intonation der Bedeutungsunterschied auch so deutlich wird)
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Anheimgeben - anheim geben
Das "anheim" hat keinerlei griffige eigenständige Bedeutung und kann überhaupt nur in Verbindung mit bestimmten Verben existieren (insofern besteht eine ganz leichte Verwandtschaft mit der Vorsilbe "hin-", die selbst der analphabetischste Reformer wohl kaum vom Verb abtrennen würde); die getrennte Schreibweise ist vollständiger Blödsinn (man mache auch die Intonationsprobe. Klingt saukomisch)
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Bekanntmachen - bekannt machen
Hat beides seine Berechtigung; die unterscheidende Nuance ist so fein, daß ich im Moment überfordert bin, sie herauszuarbeiten (ließe sich bei Bedarf aber sicher ein andermal bewerkstelligen.) Sicher aber ist mal, daß bei getrennter Schreibweise der Akzent stärker auf "bekannt" liegt.
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breitmachen - breit machen
Zusammengeschrieben kenn ich das Verbum nur in seiner reflexiven Variante "sich breitmachen", das heißt im seelischen, sozialen Sinn Raum für sich beanspruchen. Hier wäre die getrennte Schreibweise durchaus verfehlt, da in diesem Fall das "breit" sofort ein ganz anderes Gewicht, eine ganz andere Färbung annimmt; die Bedeutung bekommt bereits eine mehr physische Nuance. - "Einen Gegenstand breit machen hingegen würde bedeuten, einem Gegenstand, welchem die "Breite" vorher fremd war, gewissermaßen als ganz neue Qualität solche zu verpassen (im Gegensatz zu "verbreitern", wo vorhandene Breite erweitert wird). - Sicher lassen sich Anwendungsmöglichkeiten finden für den durch die getrennte Schreibweise zum Ausdruck kommenden Begriff; glaub aber nicht, daß sie dicht gesät sind.
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Lies mal, was daruntersteht.. Lies mal, was darunter steht.
Lies mal, was druntersteht. Lies mal, was drunter steht
Durch das "a" im "darunter" erhält letzteres eine stärkere Betonung, wird eigenständiger und bekommt somit das Recht, sich selbständig zu machen: Der Akzent fällt auf die Tatsache, daß es eben "darunter" steht. - Bei "drunterstehen" ist die Ortsbefindlichkeit nicht ganz so stark betont. - Die Nuance ist nur sehr schwach; selbst würde ich in beiden Fällen beide Schreibweisen akzeptieren.
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Abscheuerregend - Abscheu erregend
Das eine wie das andere bringt jeweils eine ganz bestimmte Nuance zum Ausdruck; bei Getrenntschreibung wird die Abscheu stärker betont (was auch in der Intonation zum Ausdruck kommt). Beides ist - sofern der Sprechende oder Schreibende die jeweils zum Ausdruck gebrachte Nuance im Auge hat - "richtig". Sich dogmatisch auf eine der beiden Möglichkeiten beschränken, wäre eine gewaltsame Einengung der Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache.
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äußerst abscheuerregend - äußerst abscheu erregend
Bei Getrenntschreibung wird, entsprechend der Logik der deutschen Sprache, die „Abscheu“ zum Substantiv, welches, entsprechend der Konvention, der Großschreibung unterliegt. Entsprechend wird das die Abscheu charakterisierende „äußerst“ zum attributiven Adjektiv und nimmt als solches die Form „äußerste“ an. Muß also heißen: äußerste Abscheu erregend. In dieser Form wären beide Varianten „richtig“ und würden sich höchstens durch ganz geringe Nuancen voneinander unterscheiden. – Die Getrenntschreibung in der Form „äußerst abscheu erregend“ ist, rein von der Logik der deutschen Sprache her, Unsinn; ganz egal, was die hochgelahrten Herren Reformer dazu meinen.