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Phrase Konvention Routine

(aus einem anno 1922 von einem österreichischen Denker gehaltenen Vortrag)

Nachfolgender Auszug aus einem am 3. Oktober 1922 gehaltenen Vortrag zeigt verschiedene Elemente jener fatalen Entwicklung auf, mit deren Folgen wir Heutigen uns, bewußt wie – in der Regel – unbewußt, herumzuschlagen haben. Der Vortragende selbst, ein 1925 verstorbener österreichischer Denker, bezeichnet jene Entwicklung an anderen Stellen als „Ohnmächtigwerden des Geisteslebens“.

Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts können Sie durch eine intime geschichtliche Betrachtung Merkwürdiges finden. Wenn wir dasjenige betrachten, was etwa so in jener Literatur, in jenem Schrifttum erscheint, das gelesen wird von allen jenen Leuten, die doch an der Gestaltung des Geisteslebens teilnehmen, so finden wir, daß im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, so bis in die Mitte der achtziger, neunziger Jahre hinein, innerhalb des deutschen Sprachgebietes ein ganz anderer Stil in den Journalen, sogar in den Zeitungen geherrscht hat als heute. Damals war ein Stil, der Gedanken ziselierte, Gedanken ausgestaltete, der etwas darauf gab, gewisse Gedankengänge zu verfolgen; der etwas darauf gab, Schönheit in den Gedanken zu haben. Heute ist unser Stil, jener, den man mit so etwas im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts vergleichen kann, roh und grob geworden. Man braucht nur irgend etwas, was es auch sei, m die Hand zu nehmen aus den sechziger, siebziger Jahren von Menschen, die nicht gelehrt, nicht studiert waren, nur allgemein gebildet waren, und Sie werden diesen großen Unterschied finden. Die Gedankenformen sind andere geworden. Aber das, was heute roh und grob ist, ist doch gerade aus dem hervorgegangen, was fein ziseliert, geistreich, oftmals im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts schon auch innerhalb der gelehrten Bildung üblich war. Aber eines sehen wir gerade damals, und diejenigen, die das noch mitmachten, die, ohne daß sie alt geworden sind, im Sinne unseres heutigen Geisteslebens, zu späteren Jahrgängen gekommen sind, die als solche das von dazumal mitgemacht haben, die haben es auch erlebt: Dasjenige, was dazumal so furchtbar einzog in alles Geistesleben, das ist das, was ich, symbolisch charakterisiert, die Phrase nennen möchte.

Und an dieser Phrase entwickelte sich die Gedankenlosigkeit, die Gesinnungslosigkeit und die Willenlosigkeit, die heute auf dem Wege sind, immer größer und größer zu werden. In erster Linie gingen diese Dinge aus der Phrase hervor. Die Phrase hat sich hauptsächlich herausgebildet im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. Sie können das auch äußerlich verfolgen, meine lieben Freunde. Die Dinge brauchen Ihnen nicht sympathisch zu sein, die da und dort in einem Zeitalter auftreten. Aber auch, wenn sie einem nicht sympathisch sind in der einen oder anderen Form, man kann sie in ihrer Bedeutung für den ganzen Menschenzusammenhang beobachten.

Nehmen Sie die innigen wunderbaren Töne, die im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts etwa in der deutschen Romantik anzutreffen waren. Nehmen Sie, ich möchte sagen, das manchmal wie aus frischer, gesunder Waldesluft heraus wehende Reden über Geistiges bei so jemand wie Jakob Grimm, so werden Sie sich sagen: Da herrscht in Mitteleuropa noch nichts von der Phrase. Die zieht im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erst in Mitteleuropa ein. Wer dafür eine Empfindung hat, der weiß schon, wie allmählich die Zeit heraufgekommen ist, wo da eintritt, was gegenüber der Phrase immer eintreten muß: Wo die Phrase beginnt zu herrschen, da erstirbt die innerlich, seelisch erlebte Wahrheit. Und mit der Phrase geht einher ein Anderes. Das ist, daß der Mensch den Menschen nicht finden kann im sozialen Leben.

Meine lieben Freunde! Wenn der Ton aus dem Munde klingt so, daß er nicht Seele hat — wie es bei der Phrase der Fall ist —, dann gehen wir als Menschen neben dem anderen Menschen hin und können ihn nicht verstehen. Das ist eine Erscheinung, die auch wieder im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ihre höchste Höhe erlangt hat, nicht in den Seelentiefen drunten, aber im Bewußtsein. Die Menschen wurden wirklich einander fremd und immer fremder. Je mehr der Ruf ertönte nach sozialen Reformen und Impulsen, desto mehr ist dieser Ruf ein Symptom dafür, daß die Menschen unsozial geworden sind. Weil sie nichts mehr vom Sozialen fühlten, drängt es sie, nach dem Sozialen zu schreien. Das Tier, das hungrig ist, schreit nicht nach der Nahrung, weil es die Nahrung im Magen hat, sondern weil es sie nicht hat. Die Seele, die nach dem Sozialen schreit, schreit nicht, weil sie durchdrungen ist vom Sozialen, sondern weil sie diese Empfindung nicht hat. So wurde der Mensch nach und nach zu dem Wesen gemacht, dessen man sich heute nicht bewußt ist, aber das man sieht, im weitesten Umfang zwischen Mensch und Mensch herrschend, man hat gar nicht mehr das Bedürfnis, anderen Menschen seelisch nahezutreten. Die Menschen gehen alle aneinander vorbei. Das meiste Interesse hat jeder Mensch nur an sich selber.

Was ist denn, im Grunde genommen, ganz besonders üblich geworden heraus aus dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, herüber dann als soziale Empfindung von Mensch zu Mensch im zwanzigsten Jahrhundert? Sie hören einen Satz heute immer wieder und wieder: Das ist mein Standpunkt. So sagen die Leute: Das ist mein Standpunkt. Jeder hat einen Standpunkt. Als ob es darauf ankäme, was man für einen Standpunkt hat! Der Standpunkt im geistigen Leben ist nämlich ebenso vorübergehend wie der Standpunkt im physischen Leben. Gestern stand ich in [...], heute stehe ich hier. Das sind zwei verschiedene Standpunkte im physischen Leben. Es kommt darauf an, daß man einen gesunden Willen und ein gesundes Herz hat, um die Welt von jedem Standpunkte aus betrachten zu können. Aber die Menschen wollen heute nicht, was sie von den verschiedenen Standpunkten aus gewinnen, sondern es ist den Menschen wichtiger die egoistische Behauptung ihrer Standpunkte. Dann aber schließt man sich in der rigorosesten Weise von seinen Nebenmenschen ab. Sagt einer etwas, geht man nicht ein auf das, was er sagt, denn man hat ja seinen Standpunkt. Aber dadurch kommt man sich nicht näher. Näher kommt man sich, wenn man seine verschiedenen Standpunkte weiß in eine gemeinsame Welt hineinzustellen. Aber diese gemeinsame Welt fehlt heute ganz. Eine gemeinsame Welt für den Menschen findet sich nur im Geiste. Und der fehlt.

Das ist das Zweite. Und das Dritte ist: Wir sind im Grunde genommen im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts als mitteleuropäische Menschheit nach und nach doch recht willensschwach geworden — willensschwach—, in dem Sinne willensschwach, daß der Gedanke gar nicht mehr die Kraft gewinnt, den Willen zu stählen, so daß der Mensch, der doch ein Gedankenwesen ist, aus seinen Gedanken heraus die Welt zu gestalten vermag.

Ja, meine lieben Freunde, wenn davon gesprochen wird, daß die Gedanken blaß sind, so sollte man das nicht zu der anderen Behauptung umgestalten, daß man keine Gedanken braucht, um als Mensch zu leben. Die Gedanken sollten nur nicht so schwach sein, daß sie da oben im Kopfe sitzen bleiben. Sie sollten so stark sein, daß sie durch das Herz und durch den ganzen Menschen bis in die Füße hinunterströmen. Denn es ist wahrhaft besser, wenn statt bloßer roter und weißer Blutkügelchen auch Gedanken unser Blut durchpulsen. Es ist richtig, daß es wertvoll ist, wenn der Mensch auch ein Herz hat und nicht bloß Gedanken. Aber das Wertvollste ist, wenn die Gedanken ein Herz haben. Aber das haben wir ganz verloren. Die Gedanken, die die letzten vier bis fünf Jahrhunderte gebracht haben, können wir nicht mehr ablegen. Aber diese Gedanken müssen auch ein Herz bekommen.

Und, sehen Sie, jetzt will ich Ihnen ganz äußerlich einmal sagen, was in Ihren Seelen lebt. Sie sind herangewachsen, haben die ältere Generation kennengelernt. Diese ältere Generation hat sich in Worten dargestellt. Sie konnten nur Phrasen hören. In dieser älteren Generation stellte sich Ihnen dar ein unsoziales Element. Der eine ging an dem anderen vorbei. In dieser älteren Generation stellt sich Ihnen auch dar die Ohnmacht des Gedankens, den Willen, das Herz zu durchpulsen.

Sehen Sie, mit der Phrase, mit dem antisozialen Konventionalismus und mit der bloßen Lebensroutine, statt der herzlichen Lebensgemeinschaft konnte man so lange sich halten, als noch die Erbschaft von den vorigen Generationen vorhanden war. Die Erbschaft war ungefähr am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dahin. So sahen Sie etwas, was überhaupt nicht mehr zu der eigenen Seele sprechen konnte. Es war nichts da, was zu der eigenen Seele sprechen konnte. Nun fühlten Sie, daß in den Tiefen da unten, gerade in Mitteleuropa, etwas vorhanden ist, was das tiefste Bedürfnis hat, wiederum das zu finden, was einmal gelebt hat jenseits der Phrase, jenseits der Konvention, jenseits der Routine. Wiederum Wahrheit zu erleben, wiederum menschliche Gemeinschaft zu erleben, wiederum Herzhaftigkeit des ganzen Geisteslebens zu empfinden. Wo ist denn das? So sagt eine Stimme in Ihrem Innern.

Und oftmals hat man, wenn auch nicht klar und deutlich ausgesprochen, aber klar und deutlich tatsächlich sehen können, nebeneinander den jungen Menschen und den alten Menschen gerade in der Zeit, als die Morgendämmerung des zwanzigsten Jahrhunderts heraufkam. Den alten Menschen und den jungen Menschen. Der alte Mensch, der sagt: Das ist mein Standpunkt. Ach, die Menschen hatten allmählich, als das neunzehnte Jahrhundert zu Ende ging, alle, alle ihren Standpunkt. Der eine war Materialist, der andere Idealist, der dritte Realist, der vierte Sensualist usw. Sie hatten alle ihren Standpunkt. Aber allmählich unter der Herrschaft von Phrase, Konvention und Routine war der Standpunkt auf einer Eiskruste angekommen. Die geistige Eiszeit war gekommen. Nur daß das Eis dünn war, und da die Standpunkte der Menschen die Empfindung für ihr eigenes Gewicht verloren hatten, so durchbrachen sie nicht die Eiskruste. Sie waren außerdem in ihrem Herzen kalt, sie erwärmten die Eiskruste nicht. Die Jüngeren standen neben den Alten, die Jüngeren mit dem warmen Herzen, das noch nicht sprach, aber das warm war. Das durchbrach die Eiskruste. Und der Jüngere fühlte nicht: Das ist mein Standpunkt, sondern der Jüngere fühlte: Ich verliere den Boden unter den Füßen. Meine eigene Herzenswärme bricht dieses Eis auf, das sich zusammengezogen hatte aus Phrase, Konvention und Routine. Wenn auch nicht deutlich ausgesprochen — denn heute wird nichts deutlich ausgesprochen —, eine Erscheinung, die man immer wieder und wiederum finden kann — in Wahrheit war sie seit langem vorhanden und ist auch in der Gegenwart vorhanden.

Raymond Zoller

Zur russischen Übersetzung