Die Klamurke Sprachliches

Vom rechten und unrechten Schreiben

Verstreute Notizen zur deutschen Rechtschreibereform

Nun soll sie also wieder rückgängig gemacht werden, die vielbeschworene Rechtschreibereform; wirr und chaotisch soll sie enden, wie sie begonnen, das geschaffene Chaos weiter vergrößernd[0].

Was jene Reform eigentlich sollte, blieb mir, dem Verfasser vorliegender Zeilen, von jeher schleierhaft. Möglich, daß einfach bloß in irgendwelchen bundesdeutschen Ministerien irgendwelche Leute saßen, die zeigen wollten, daß sie noch da sind und die zu selbigem Behufe sich bemüßigt sahen, etwas Aktivität zu entfalten; und im Weiteren dann noch Arbeitsplatzbeschaffung für arbeitslose Germanisten. Vielleicht hat es auch noch andere Gründe gegeben; es wurde ja auch dies und jenes angeführt; aber sehr überzeugend wirkt das nicht.

Genauso schleierhaft blieb mir, was die radikalen Reformgegner der verschiedenen Couleur eigentlich wollen: geht es denen um die Rettung von Sprache und Ausdrucksfähigkeit, oder um die Wahl des „Starken Mannes“, der eindeutig zu bestimmen hat, was rechtens ist und was nicht? Oder sind sie einfach bloß beunruhigt, daß altgewohntes sich plötzlich verändern soll?

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Wozu leben wir? Wir leben, um durch unsere Taten und Unterlassungen dem Gesetze Genüge zu tun und somit brave Staatsbürger zu sein; und Aufgabe der hierzu zuständigen Instanzen ist es, eindeutige und unmißverständliche Gesetze zu schreiben, aufdaß wir die Sinnerfülltheit unseres Lebens klar und eindeutig bestimmen können[1].

Wozu befleißigen wir uns, mündlich und, vor allem, schriftlich, des sprachlichen Ausdrucks? Wir befleißigen uns des sprachlichen Ausdrucks, um durch geringe Fehlerzahl uns und andere davon zu überzeugen, daß wir gebildete Menschen sind; und Aufgabe der hierzu zuständigen Instanzen ist es, eindeutige und unmißverständliche Regeln zu verfassen, aufdaß der Stand unserer Bildung klar und zweifelsfrei feststellbar sei.

Auf einer Internetseite radikaler Reformgegner lesen wir im Anschluß an eine Auflistung von Wörtern, die man laut neuer Rechtschreibung auf verschiedene Arten schreiben darf: „Nach einer vorsichtigen Schätzung von Prof. Dr. Werner H. Veith, Mainz (Die WELT vom 16.01.1997, S. 10), sind etwa 2400 Wörter nicht eindeutig mit Hilfe von Regeln bestimmbar[2]

Wer sich mit der Sprache als solcher enger verbunden fühlt und wem weiter oben skizzierte Mentalität fremd ist, dem mag unverständlich bleiben, was denn daran denn so schlimm sein soll: daß jene 2400 Wörter „nicht eindeutig mit Hilfe von Regeln bestimmbar sind“ bzw. daß deren Schreibweise nicht eindeutig festgelegt ist: Der Muttersprachler, der mit der deutschen Sprache lebt (so er tatsächlich mit ihr lebt) müßte eigentlich genügend Sprachgefühl und Sinn für Logik entwickeln, um selbst bestimmen zu können, was gut und richtig ist; und derjenige, für den Deutsch eine Fremdsprache ist, wird sich halt damit abfinden müssen, daß er sich erst mal über Jahre hinweg in sie einzuleben hat, bis er verschiedene Feinheiten bewältigen kann. – Für jemanden, der sich mit der Sprache verbunden fühlt, ergibt sich die Ästhetik des „Sprachbildes“ denn auch nicht aus der Übereinstimmung mit irgendwelchen willkürlich festgesetzten Regeln, sondern aus der Übereinstimmung mit der Sprache selbst. Und wenn die Regeln auch noch so eindeutig bestimmt sind – wenn sie das innere Gesetz der Sprache nicht treffen, sind ihm diejenigen allemal näher, die sie nicht beachten.

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Schauen wir uns denn, anhand zufällig herausgegriffener Beispiele, jene Wörterliste mal näher an:

Waggon – Wagon: Hängt davon ab, wie man es ausspricht. Ich würde „Waggon“ nehmen; „Wagon“ drängt die Betonung auf das „a“.

Weitreichend – weit reichend: von unterschiedlicher Bedeutung (ließe sich genauer darlegen). Im Sinne der gewöhnlich gemeinten Bedeutung müßte es in einem Wort geschrieben werden. – Ähnliches für „weittragend“ usw...

„Alleinstehende“ und „allein Stehende“: die Getrenntschreibung atmet einen sehr feinen unfreiwilligen Humor; wohl das Werk einer orthographischen Friederike Kempner.

„die allgemeinbildenden Schulen“ – „die allgemein bildenden Schulen“: Getrenntschreibung von atemberaubender Komik; kann bei Bedarf aufgezeigt werden

Und so weiter.

Manche der in der „Wörterliste“ aufgelisteten Variantenpaare enthalten Wörter, die sich in leichten Nuancen voneinander unterscheiden; andere sind von grundverschiedener Bedeutung; und manche Schreibweisen hinwiederum sind blanker Unsinn. – Statt sich mit den Reformern herumzustreiten und ihnen vorzuhalten, daß sie nicht eindeutig genug festhalten, was gut ist und richtig, hätten jene Reformgegner sich doch wohl besser hingesetzt, um die jeweiligen Bedeutungsunterschiede herauszuarbeiten sowie die völlig unsinnigen Varianten auszusortieren; und somit hätten sie vielleicht tatsächlich einen Beitrag geleistet wennauch nicht zur Reform oder Rücknahme der Reform, so aber doch zur Entwicklung der Orthographie. Denn die Sprache ist, wie nicht zu übersehen, in ständiger Entwicklung; und je bewußter die sie sprechenden diese Entwicklung mitverfolgen, umso besser für alle. Doch dies ist, natürlich, anspruchsvoller und schwieriger, als irgendwelche Direktiven herausgeben oder selbige bekämpfen[3].

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Kommen wir zurück zu den Reformern:

Irgendwo hörte ich das Argument: Der Duden sei ausgeufert, sei unübersichtlich worden; und dieses Ausufern und Unübersichtlichwerden habe es notwendig gemacht, die Angelegenheit in die festen Hände staatlicher Instanzen zu übergeben (denn selbige sind ja bekanntlich dazu da, durch Vereinheitlichung die Dinge zu vereinfachen; oder, wo solches nicht gelingt, Ansätze von Verwirrung zu nicht mehr zu übersehenden Dimensionen anwachsen zu lassen, aufdaß sie sichtbar werden)

Nun gut: Warum die „Zuständigkeit“ bei der Privatunternehmung Duden in schlechteren Händen sein sollte als in den Händen staatlicher Instanzen, ist mir nicht ganz klar. Der Sache nach scheint mir das in vorliegendem Fall eine Frage der fachlichen Kompetenz; und letztere ist bei einem beamteten Reformer nicht automatisch größer als bei einem „privatwirtschaftlich“ arbeitenden Dudenmitarbeiter. – Ich muß gestehen, daß ich mir den „Duden“ noch nie so richtig angeschaut habe und deshalb nicht beurteilen kann, wie weit er ausuferte und unhandlich wurde; doch da ich von meinem ständigen Umgang mit der Sprache her weiß, daß selbige ein recht komplizierter Organismus ist, würde solches mich nicht allzusehr wundern. Aber auch der menschliche Körper, sagen wir, ist ein recht komplizierter Organismus; und trotzdem würde es wohl kaum jemandem einfallen, zwecks Erleichterung des Medizinstudiums die Darstellung selbigens zu vereinfachen (zumindest hoffe ich, daß es niemandem einfallen würde; doch heutzutage weiß man ja nie...)

Oder braucht man eine übersichtliche Grundlage, um besser Noten verteilen zu können; d.h.: um Sprachkenntnisse zu quantifizieren? Selbst bin ich nicht sicher, wie weit eine solche Quantifizierung notwendig bzw. überhaupt möglich ist; vor allem aber, wenn sie sich nicht auf die Sprache selbst bezieht, sondern auf ein vereinfachtes Phantom. Und auch die sich der deutschen Sprache widmenden Ausländer wollen ja immerhin Deutsch lernen und nicht ein Surrogat.

Ich will nicht verhehlen, daß manche Ergüsse der beamteten Reformer mir ein leises Grausen einflößen: Daß ein Mensch sich sowat ausdenken kann... Doch ließe sich dies und jenes, wie bereits angedeutet, im Rahmen einer sachlichen Auseinandersetzung vielleicht ausbügeln; bloß findet eine solche sachliche Auseinandersetzung ja nu mal kaum statt: Die einen sind stur „dafür“, die andern stur „dagegen“. Die Haltung der „Sprachwahrer“ erinnert mehr an eine politischen Partei denn an Menschen, denen es um bestimmte Fragen und Probleme zu tun ist; und genau wie im allgemeinen Parteienkampf bleiben die eigentlichen Fragen, von denen man eigentlich ausging, auf der Strecke. Aber das ist nun mal das Wesen einer jeglichen „Politik“...

Weiteres Material zum Thema

- Mein bereits erwähnter Brief an den Ersteller der „Wörterliste“. Die darin angeführten Beispiele sind nur flüchtig hingeworfene Skizzen, die natürlich gründlicher ausgearbeitet werden müßten.

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- Bei Befürwortern wie Gegnern der Rechtschreibereform wurde unter den verschiedensten Gesichtspunkten das Argument der „Fehlerzahl“ angeführt; eine Angelegenheit von atemberaubender Komik, die noch ihrer literarischen Ausarbeitung harrt. Anbei ein im September 2000 verfaßter Kommentar zu einer Argumentation aus dieser Ecke (wurde sogar irgendwo veröffentlicht; hab bloß vergessen, wo; weiß nur noch, daß das Copyright bei mir blieb). Also: Fehlerzahl

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- Rein zufällig entdeckte ich vor kurzem bei den Reformgegnern einen schon älteren, archivierten Text, darin auch ich selbst, ganz am Rande, teilhabe, und welcher in beeindruckender Weise zeigt, in welchem Maße die Politik gegenüber dem Inhalt die Vorherrschaft hat. Nachdem man eine ganze Seite lang politisiert hatte, wurde zum Schluß – wennauch nur nebenbei, aber doch: immerhin – auf einen Beitrag verwiesen, in dem darauf hingewiesen wurde, daß beide zu dieser politisierenden Polemik Anlaß gegeben habenden Schreibweisen ihre Berechtigung haben (möglicherweise ohne zu merken, daß, so man jenen Beitrag ernst nimmt, die ganze Polemisiererei in der Luft hängt). – Der Beitrag stammt von mir selbst (hatte völlig vergessen, daß ich mich da mal geäußert hatte) und sei hier wiedergegeben:

Die, 14. Aug 2001 18:26 Uhr – Versteh nicht, was daran verwirrungshervorrufend sein soll (oder höchstens der Umstand, daß das Werk der Reformer, in dem ich - bei flüchtiger Sichtung - bislang nur Schwachsinn entdecken konnte, überraschenderweise auch stimmiges enthält) - Bei "Besorgnis erregend" ist "Besorgnis", als Objekt von "erregen", ein ganz normales Substantiv. Nichts hindert einen daran, beim Zumausdruckbringen besonderer Intensität diese Konstruktion beizubehalten und von höchster, stärkster usw... Besorgnis zu sprechen, die erregt wird; und zwar, wie es sich für ein Substantiv gehört, mit Hilfe von Adjektiva. Etwa: "Dieser Zustand erregt höchste Besorgnis"; oder auch: "Wir haben es hier mit einem höchste Besorgnis erregenden Zustand zu tun". - Das Adverbum "höchst" bezieht sich nicht auf das Substantiv, sondern auf das Verb. Zur Not könnte man noch sagen: "Dieser Zustand erregt stark Besorgnis"; hingegen wäre eine Partizipialkonstruktion ("Dieser Zustand ist stark Besorgnis erregend") für ein nur halbwegs entwickeltes Sprachgefühl eine Zumutung, da das Objekt sich wie eine Wand zwischen das Adverb und das dazugehörige Verbum dazwischenstellt. - Wenn nun das Verb "erregen" das Objekt "Besorgnis" gewissermaßen aufsaugt und vom allgemeinen "erregend" zum bestimmteren "besorgniserregend" wird, so wird die Intensität entsprechend durch ein Adverb zum Ausdruck gebracht; also: höchst besorgniserregend. - Mir scheint, daß es insgesamt weniger um die Frage geht, ob denn nu die Reformer oder die Reformgegner im Recht sind, sondern vielmehr darum, daß man lernt, auf die Spezifik der Sprache selbst einzugehen. - Mit Gruß R. Zoller

Und wer sich auch die politisierende Polemik zu Gemüte führen möchte, findet die unter http://www.deutsche-sprachwelt.de/berichte/dsw/dachauer01.shtml

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- Und dann sei noch angemerkt, daß es abseits von Reformern und Gegenreformern zum Glück aber auch noch jede Menge Zeitgenossen gibt, denen die Sprache selbst ein Anliegen ist. So zum Beispiel diejenigen, die sich die Mühe machten, das Grimm’sche Wörterbuch in digitalisierter Form zugänglich zu machen (gewissermaßen ein Relikt aus jenen vorsintflutlichen Zeiten, als bei der Entwicklung der Sprache noch verstärkt hierzu berufene mitmischten und nicht Direktiven verfassende beamtete „Brotgelehrte“)

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- Und hier: Vermischte lesenswerte Notizen zur „Rechtschreibereform“ von einer Zeitgenossin, der es um die Sprache geht (und nicht, wie leider üblich, um politisierendes Verteidigen oder Bekämpfen der „Reform“). – Als Epigraph zu dieser Notizenseite – ein Zitat von Lion Feuchtwanger: „Ich hab nichts dagegen, wenn im Frieden Schwachköpfe in den hohen Ämtern sitzen. Aber im Krieg sollte man zum Kriegsminister nur einen Mann bestellen, der eine Landkarte von einem Teppichmuster unterscheiden kann.“ – Eben das isses: Die Inkompetenz von jenem Volks, das sich da dranmachte, die deutsche Sprache zu „reformieren“, ist schon verblüffend. Ja: verblüffend (unabhängig davon, daß es mir eh nicht einleuchten will, woher staatliche Stellen sich das Recht nehmen zum autoritativen Sicheinmischen in die Belange der Sprache...).


0) Die Zusammenstellung dieses Materials geschah zu einem Moment, wo es so aussah, als wolle man die Rechtschreibereform, wieder rückgängig machen. Inzwischen hat man es sich dann wieder anders überlegt. Was für den Verfasser vorliegender Zeilen allerdings nicht von Belang ist, alsda er sich nicht von irgendwelchen staatlichen Stellen vorschreiben läßt, wie er zu schreiben hat; es geht hier mehr um die vergnügliche Absurdität, die sich um diese ganze Reformiererei herumrankt sowie um den Zeitgeist, der solches möglich macht.
1) Ausdrücklich sei gesagt, daß dies nicht die Sichtweise des Verfassers wiedergibt. Er gibt nur das wieder, was er, außer Konsumieren, als Lebenssinn bei nicht wenigen seiner Zeitgenossen festgestellt zu haben glaubt.
2) Was ist das, nebenbei b’merkt, für ein Deutsch? Wieso sollen die Wörter nicht eindeutig bestimmbar sein, beziehungsweise: was heißt das überhaupt: sie sind nicht eindeutig bestimmbar? Dem Kontext nach zu urteilen meint man vermutlich, daß nicht eindeutig festgelegt ist, welche Schreibweise man als richtig zu betrachten hat. Falls man, wie vermutet, das so meint, dann soll man es, auf die Ausdrucksmöglichkeiten der zu rettenden deutschen Sprache zurückreifend, gefälligst in klarer und verständlicher Aussage auch so zum Ausdrucke bringen und nicht irgendwelchen Unsinn hinschreiben.
3) Man mag mir vorhalten, daß ich das doch dann, mit gutem Beispiel vorgehend, selbst hätte machen sollen. Zu meiner Rechtfertigung sei gesagt, daß ich im Juli des Jahres 2000 doch tatsächlich einen Brief schrieb an den Ersteller jener Liste mit dem Vorschlag, das so zu machen; und, mit gutem Beispiele vorgehend, hatte ich eigenhändig mehrere dieser Wortpaare analysiert. Das wurde aber nicht aufgegriffen, vermutlich nicht einmal verstanden. Den Brief mitsamt angefügten Beispielen findet man hier)
Raymond Zoller