Der Weise fürchtet den Mächtigen nicht;
braucht keine Geschenke von Fürsten.
Frei seine Sprache, gesättigt mit Sinn
und mit himmlischem Willen verbündet
(A.S. Puschkin: Das Lied vom Prinzen Oleg)
"... In diesem Empfinden des Unheimischen und Unheimlichen sollte man einer noch immer unverlorenen, wenn auch fortwährend bedrohten Heimat nicht vergessen. Ist es doch die Sprache, deren Wärme und Fülle uns noch immer Zuflucht gewährt und selbst noch in der Öde die Herberge des erschöpften Wanderers bleibt. Es ist die Heimat im Ohr und im Herzen, der wir nur zu lauschen brauchen. Aber es ist überdies die Heimat der Zuversicht, die das Verstehen spendet, denn was wäre köstlicher als das Gespräch. Jenes aller List und allem Zwang abholde, worin die sich Austauschenden nicht zueinander oder gegeneinander, sondern auseinander sprechen, indem jeden der Eifer beseelt, nicht sich, sondern den anderen noch besser auszusprechen, als er selbst es vermag."
(Herbert Witzenmann: Die schwarze Sage und die lichte Legende)
…denn eben, wo Begriffe fehlen
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein…
(Goethe: Faust)
…und von diesen unerhörten Reden
starb Koschej[1] ganz von alleine, ohne jede weitere Einmischung
(Vladimir Vyssozkij)
Irgendwann Mitte der achtziger Jahre stellte ich Vergleiche an zwischen dem damaligen Sowjetischen GULAG und dem, was ich „Westlichen GULAG“ nannte; und bei der Gelegenheit verglich ich auch die Rolle und die Aufgaben der Schriftsteller in diesen beiden Systemen. Den Unterschied sah ich darin, daß das Sowjetische System in erster Linie äußere, rein technische Hindernisse aufstellt; und wenn es gelingt, diese Hindernisse zu überlisten, so wird der echte Schriftsteller unbedingt verstehende Leser finden. – Der westliche GULAG ist hingegen ein rein psychischer Faktor, der in einem trüben Gewebe aus sublimer Lüge besteht; aus Lüge, die zu alledem so raffiniert gesponnen ist, daß ihr mit keinerlei Aufrufen „Nicht in der Lüge zu leben[2]“ beizukommen ist. Und die Aufgabe des westlichen Schriftstellers besteht eben darin, dieses Gewebe zu entwirren, seine Feinstruktur zu entschlüsseln; und, indem er sich selbst davon befreit, auch den andern, d.h. seinen Lesern bei der Befreiung zu helfen. Eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe; fordert doch die sublime, komplizierte Struktur der Mauern dieses GULAG ein äußerst feines Instrumentarium; und zwar: eine präzise, differenzierte Sprache. Und dem Publikum, in seiner Gefangenschaft, ist eine solche Sprache nicht zugänglich…
Den Sowjetischen GULAG kannte ich allerdings nur aus der Literatur und aus Erzählungen von Emigranten; und ich kann nicht ausschließen, daß ich dies oder jenes nicht richtig verstanden hab. Doch geht es hier nicht um das Vergangene; es geht darum, daß ich – seit fünf Jahren in Rußland lebend und nicht schlecht mit den Feinheiten der russischen Sprache vertraut – sehen mußte, wie genau das gleiche Spinnengewebe, vor dem ich gewissermaßen nach Rußland geflüchtet war, nun auch hier anfängt sich breitzumachen. Anders ausgedrückt: Ich wurde Zeuge, wie nach einer kurzen Übergangsperiode der Sowjetische GULAG allmählich von dem abgelöst wurde, was ich „Westlichen GULAG“ nannte.
Und die Wurzeln des heutigen sozialen Chaos[3] sehe ich eben im Aufkommen dieser neuen Gefängniswände: in der „neuen Lüge“, im Verfall von Sprache und Kultur.
„Unsere Sprache bleibt heutzutage katastrophal weit zurück hinter den hohen Idealen der russischen Sprachkultur“, schreibt Prof. Komljev in seinem Aufsatz „Verstehen wir eigentlich, welche Sprache wir sprechen?“ (Literaturnaja Gaseta vom 8.10.97) Und er ist der Ansicht, daß man beim Verstehen und Bewältigen der Krisensituation „der Sprache eine grundlegende strategische Bedeutung zukommt.“
Völlig einverstanden…
Und während des Wogens der sogenannten „Perestroika“ schaute ich noch mit Hoffnung Richtung Rußland: Und plötzlich schaffen die es tatsächlich, zu retten, was im Westen längst verloren ist?
In den ersten Jahren der „Perestroika“ glaube ich, nebenbei gesagt, nicht im geringsten an irgendwelche Veränderungen; ich vermutete, daß außer leeren Worten da keinerlei Realität dahintersteckt. Daß da irgendwas im Busch ist, verstand ich erst, als ich erfuhr, daß S.P. Salygin zum Chefredakteur der Zeitschrift „Novyj Mir“ ernannt worden war: Denn wenn zu solchen Schaltstellen plötzlich mutige, freie Geister herangelassen werden – so ist das schon nicht mehr bloß leeres Geschwafel über irgendwelche diffuse „Glassnost“, sondern betrifft direkt und unmittelbar das WORT, betrifft das reale Bewußtsein der Bevölkerung; das heißt: eben den Faktor, durch den – entgegen der Ansicht irgendeines deutschen Philosophen – die Realitäten bestimmt werden… Und da ich den Geisteszustand der wörterreichen westlichen Journalisten nur zu gut kannte, wunderte es mich nicht im geringsten, daß man diesem Ereignis keinerlei Beachtung schenkte. Denn für die ist die Wirklichkeit des Bewußtseins – einfach bloß Überbau… - Im weiteren vertiefte ich mich in die Leserbriefe im „Ogonjok“ und in anderen – damals noch sowjetischen – Zeitschriften und Zeitungen. Meine Hoffnung wuchs. Denn: Da sind Leute, die sprechen! Unbestimmtes, noch verworrenes Suchen; doch die Sprache ist frisch, lebendig, echt!
Ich verstand, daß es weitaus leichter ist, sich von der Sowjetischen Lüge zu befreien, als von der Westlichen. Denn der Sowjetische verlogene Jargon ist recht grobschlächtig; es ist nicht so schwierig, ihn gegenüber der lebendigen Wirklichkeit abzugrenzen; und im Westen – wird schon seit langem mit wissenschaftlicher Raffinesse gelogen. Und im weiteren hatte ich noch den Eindruck, daß der russischen Bevölkerung im allgemeinen ein gewisses Gespür für Aufrechte, für Wahrheit eigen ist; eine gewisse naturgegebene Anlage, lebendige Sprache von Jargon und Geschwafel zu unterscheiden; allgemein gesagt: Daß im Gegensatz zum Westen die Sprache hier noch über eine reale Kraft verfügt. Dieser Eindruck fand naturgemäß eine starke Bekräftigung durch die Ereignisse um A.I. Solschenizyn, der seinerzeit mit dem lebendigen WORT die unverrückbar scheinenden Wände des Sowjetischen Götzen ganz gehörig ins Wackeln brachte.
„Die hohen Ideale der russischen Sprachkultur“ seh und sah ich – nun, natürlich, mehr von der Seite, als Ausländer – nicht in einer äußerlichen Brillanz, sondern: in der inneren Aufrechte; und dann noch in einem sehr wichtigen Zug, den A. Solschenizyn – seinerseits D.Schipov zitierend – wie folgt umreißt: „…daß nicht das Abgrenzen und Verteidigen von Gruppen-und Klasseninteressen, sondern das gemeinsame Suchen nach der Wahrheit das entscheidende an der russischen Tradition ausmacht…“
Es ist klar, daß man vor diesem Hintergrund die Sprache nicht als bloßen Träger toter Information verstehen darf, sondern als lebendiges Element, als Zusammenspiel[4] gemeinsamen schöpferischen Suchens. (Was, nebenbei bemerkt, nicht nur die russische Sprache betrifft, sondern zur Sprache, zur Menschlichen Begegnung und zum menschlichen Zusammenwirken überhaupt[5]; der Unterschied liegt, scheint‘s, darin, das unter den mir bekannten Sprachen das Russische dieser zentralen Aufgabe am besten angepaßt ist.)
Die lebendige Aussage offenbart sich in der Schönheit und der logischen Stringenz der sprachlichen Formen; der Zerfall der Sprache ist dafür ein Indikator für soziale Isolation und Unfähigkeit zu denken. Doch andererseits kann zu Zeiten allgemeiner Seelenschwäche, wenn keine Kraft mehr da ist, sich dem Verfall entgegenzustemmen, der verantwortungslose Umgang mit den sprachlichen Formen in den Massenmedien zu einer verhängnisvollen Rückwirkung auf die Beziehung zum Inhalt führen und die Krankheit noch verstärken. – Wenn, zum Beispiel, der Ausdruck „etwas analysieren“ ersetzt wird durch den Ausdruck „über etwas analysieren[6]“, so wird auch der Begriff selbst verändert: während wir vorher auf den zu analysierenden Gegenstand eingingen, so gehen wir nun achtlos darum herum oder daran vorbei… - Oder ein anderes Beispiel: Ein Werbeplakat mit der sinneverwirrenden Aufschrift: „Eine andere Alternative gib’s nicht!“ Wobei die Aufgabe des Werbetexters offensichtlich darin bestanden hatte, auf das Fehlen einer Alternative zum angebotenen Produkt hinzuweisen. Doch dann verhedderte er sich in der Logik und in der Sprache und führte über das unscheinbare Wörtchen „andere“ irgendetwas noch höher stehendes, wertvolleres ein; irgendwelche unverständliche imaginäre Größe, die nunmehr den für das angebotene Produkt vorgesehenen erhabenen Denkmalsockel besteigt und dieses zu einer „möglichen Alternative“ degradiert. – Doch dafür „gibt es keine andere Alternative…“ – Wenn man sich drauf einläßt – bringt es einen durcheinander. Läßt man es achtlos über sich ergehen – verblödet man.
Die Entfremdung vom lebendigen Inhalt der Sprache entsteht und wächst nun nicht bloß durch leichtsinnige und verantwortungslose Veränderung der äußeren Formen, durch Verletzen der Logik oder durch „falsche Aussprache“. Sehr stark gefördert wird diese Entfremdung auch noch durch leeres Geschwätz und Lüge; sogar ganz ohne grammatikalische Fehler und bei perfektester Aussprache. Und ein sehr wichtiger Beitrag kommt zum Beispiel von einer sehr verbreiteten Gewohnheit, die man auf den ersten Blick sogar für völlig harmlos halten kann. Und zwar: Das Radio oder den Fernseher einschalten und, ohne darauf zu achten, irgendwas anderes zu tun. Irgendein Sprecher erzählt irgendwas; doch niemand hört ihm zu. Eine verrückte Sache! Denn: da spricht doch jemand! Wenn ich spreche, und niemand hört zu, so halte ich den Mund; vielleicht bin ich sogar beleidigt. Und der Sprecher spricht und spricht: zu niemandem. – Das Radio oder den Fernseher als Geräuschkulisse zu benutzen ist eine weit verbreitete, kaum in Frage gestellte Gewohnheit, die ganz natürlich die lebendige Beziehung und die Achtung für Sprache und Sprechenden unterhöhlt.
Was nun die Veränderung der äußeren Sprachformen betrifft, so kann das die verschiedenartigsten Auswirkungen haben. Jede Sprache entwickelt und verändert ihre Formen; was entweder organisch vor sich geht, auf Grundlage des lebendigen Inhalts, oder aber „chirurgisch“, durch Aufpfropfen fremder Elemente. Zu einer gesunden, organischen Entwicklung können Menschen beitragen, die mit einem differenzierten Gefühl und Verständnis in diesem Inhalt leben (doch die werden in unserer Zeit wenig gehört; ihre Stimme wird vom Lärm der Massenmedien verschluckt).
Die harmlosesten unter den „chirurgischen Aufpfropfungen“ sind Fremdwörter, die mit klaren Begriffen verbunden sind; so wie etwa „Computer“, „File“, „Driver“; Wörter, die sich zwar in der Regel nicht durch besonderen Wohlklang hervortun, die aber trotzdem weiter nicht schaden. Sie bezeichnen einen bestimmten, mehr oder weniger verständlichen Gegenstand; und fertig.
Gefährlicher ist da schon die Aufpfropfung von Wörtern ohne Begriff. Ihre verheerenden Auswirkungen liegen darin, daß sie die Entwicklung des Geschwafels fördern. – Zum Beispiel: In einer Fernsehsendung beschreibt ein dümmlich wirkendes Mädel den Moment, in dem sie plötzlich verstand, daß sie nicht bloß ein Star ist, sondern ein Superstar… Irgendwie „glaubte“ sie selbst an diesen Schwellenübertritt; genauso wie vermutlich auch ihre Verehrer daran „glaubten“; nicht anders, als man früher an „Völkerfreundschaft“ und „Willen der Partei“[7] glaubte: die einen leeren Worte werden durch andere abgelöst.
Am verheerendsten aber sind die Auswirkungen von neu eingeführten Wörtern, die mit nicht recht zu Bewußtsein kommenden perversen Begriffen verknüpft sind. Manche von diesen Wörtern kann man ohne weiteres mit bösartigen Geschwulsten vergleichen, mit Karzinomen, die zügig alles lebendige Gewebe zerstören. Hierzu gehören auch die bereits erwähnten ungeschickten Veränderungen im Gebrauche der Kasus; aber auch – als eine der verhängnisvollsten Aufpfropfungen der letzten Jahre – ein solches Wort wie „Image“. – „Image“ – das ist die äußere Schale, die unabhängig vom Inhalt existiert und darauf berechnet ist, einen bestimmten Eindruck hervorzurufen. Im Wesentlichen liegt hier natürlich überhaupt nichts neues vor; das Neue liegt höchstens darin, daß ein Begriff, den man im normalen Russisch von jeher mit dem Wort „pokasucha“ bezeichnet [auf Deutsch etwa „Augenwischerei“ o.ä. – d.Üb.], nunmehr plötzlich in der vornehmen Maske des von weit hergereisten Fremden auftritt und in dieser Maskerade sich zu einem allgemein anerkannten unverzichtbaren Faktoren des täglichen Lebens erhebt. Und so tauchten denn „Imagemaker“ auf und Werbeagenturen, die sich alle von Berufs wegen mit der Frage beschäftigen, wie man für jeden beliebigen Inhalt und sogar für völlig fehlenden Inhalt jedes beliebige benötigte „Image“ fabrizieren kann. Das heißt, auf gut russisch gesagt: die sich von Berufs wegen mit „Pokasucha“ [auf gut deutsch gesagt: Augenwischerei] beschäftigen. – Künftige Generationen von Historikern, die sich retrospektiv mit der Pathologie unseres Fortschritts zu beschäftigen haben, werden das natürlich komisch finden. Doch für uns Zeitgenossen ist das alles andere als komisch; denn es ist kein Honigschlecken, in diesen Geweben aus sanktionierter Lüge verheddert zu sein und sich darin zurechtfinden zu müssen…
Raymond Zoller
Veröffentlicht in „Literaturnaja Gaseta“ vom 10. Dezember 97
unter dem Titel „Показуха в заморской маске“
Übersetzung aus dem Russischen durch den Verfasser