Die Klamurke Belletristik

Die Nacktschnecke

Der weiter unten erwähnte Gajus Julius Caesar.
Ob das angeführte mit gleichfalls erwähntem Ablativus Absolutus versehene Zitat tatsächlich von ihm stammt konnte bislang nicht geklärt werden.

Die Nacktschnecke

Vorbemerkung

verfasset Anfang November 2014 in Bar (Montenegro)

Die Entstehungsgeschichte nachfolgender Nacktschneckenerzählung ist ausgesprochen kurios.

Früher habe ich nie über Nacktschnecken geschrieben. Wenn ich über Tiere schrieb, so waren das meistens Nashörner, Kakerlaken oder Marsmenschen. Obwohl Marsmenschen ja eigentlich keine Tiere sind. – Nun; man kann darüber streiten, ob Marsmenschen Tiere sind oder nicht; doch, wie dem auch sei: über Nacktschnecken habe ich früher nie geschrieben.

Die Nacktschnecke erschien an einem frühen Morgen vor drei Wochen, als ich mich in Facebook über die Weltlage informierte. Das ist so meine Art, mich auf dem Laufenden zu halten: Bei Facebook habe eine Reihe Nachrichtenseiten abonniert, die sich so im Laufe der Jahre und vor allem im Laufe der letzten Monate als seriös herausstellten. Die Schlagzeilen dieser Nachrichtenseiten erscheinen denn, vermischt mit manchem anderem, auf meiner Facebookseite, wo ich sie von Zeit zu Zeit überfliege und, nach Lust und Laune und Notwendigkeit, genauer hineinlese.

Außer Nachrichten und Kommentaren zum Zeitgeschehen trifft man da natürlich auch noch auf alles mögliche Andere. Auch da lese ich manchmal hinein, um mich von dem vielen Zeitgeschehen zu erholen.

An jenem Morgen fiel mein Blick aus seiner das Weltgeschehen umfassenden Höhe auf folgenden Eintrag:

"Ich weiß, dass das hier niemand lesen wird, aber manchmal -wenn mir langweilig ist- steige ich in einen Schlafsack und reibe mich mit Butter ein. Dann rutsche ich durch die Küche und tue so, als sei ich eine Nacktschnecke!"

Zu dem Zeitpunkt war ich, wenn ich mich recht erinnere, von dem vielen Zeitgeschehen schon recht mitgenommen, und in einer kurzen Erholungspause setzte ich unter jenen Text, wie man das auf facebookerisch nennt, ein "Like"; wenn ich mich recht erinnere: sogar einen kurzen Kommentar.

Ohne was Böses zu ahnen fuhr ich dann fort mit der Erforschung des Weltgeschehens; und erfuhr kurz darauf, daß ich durch Setzen jenes "Like" in irgendeinem Spiel verloren habe und daß ich zur Strafe jenen Text nun, facebookerisch gesprochen, teilen muß. Was das für ein Spiel ist und warum ich jenen Text teilen muß, verstand ich nicht; ich verstand nur, daß dazu nicht die geringste Lust hab.

Ich machte das Angebot, statt des Teilens eine Nacktschneckenerzählung zu schreiben. Was angenommen wurde.

Obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich über ein solches Viech schreiben könnte. Die Zeit, mich darum zu kümmern, fand ich erst am späten Nachmittag; doch auch da hatte ich noch keine Ahnung. Über Nacktschnecken meditierend lief ich etwas herum; und nach und nach schälte sich aus den wirren Nebeln doch etwas wie eine schwache Linie heraus, welche, als ich mich dann endlich ans Schreiben machte, nach und nach deutlicher wurde.

Und sogar eine vermutlich völlig neue, bislang vermutlich unbekannte sexuelle Orientierung wurde dank jener Nacktschnecke entdeckt. So daß jener Nacktschneckentext vielleicht sogar noch Eingang findet in die fortschrittlichen deutschen Schulbücher.

Ein erfolgreicher Tag war das, fürwahr.

Kommen wir denn nach diesem Vorgeplänkel zur eigentlichen Nacktschnecke:

Anita liebte die Nacht. Manche, die von dieser Vorliebe wußten, nannten sie deshalb Nachtschnecke. Nicht, daß sie irgendwelche Ähnlichkeit gehabt hätte mit einer Schnecke; eine solche Ähnlichkeit war nicht vorhanden; aber sie hatte sich in lustiger Gesellschaft einmal als solche bezeichnet bezeichnet, und der Name war hängengeblieben.

Die wenigen, die sie noch besser kannten, nannten sie nicht Nachtschnecke, sondern Nacktschnecke. Oder: nächtliche Nacktschnecke.

Das hing mit ihrer Vorliebe zusammen, zu nächtlicher Stunde an ausgefallenen Orten unter ausgefallenen Umständen sich auszuziehen.

Doch davon wußten nur die wenigsten; und die meisten, die sie als Nacktschnecke erleben durften, wußten nicht, daß das Anita war.

Tagsüber brachte sie, als brave Studienrätin, den Lateinschülern unserer Stadt bei, was ein Ablativus Absolutus ist, und las mit ihnen die Memoiren des Gajus Julius Caesar. Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum una…, und so weiter und so fort; und auch den Cicero lasen sie, obwohl sie den Cicero als fiesen Intriganten betrachtete und ihn nicht ausstehen konnte. Aber er stand auf dem Programm; und deshalb nahm sie ihn, ob Intrigant oder nicht, mit ihren Schülern durch. O tempora, o mores….

Sie war dafür berühmt, daß sie selbst dem Begriffsstutzigsten den Ablativus Absolutus und sonstige Gemeinheiten der lateinischen Grammatik begreiflich machen konnte und selbst die längsten und kompliziertesten lateinischen Sätze so aufzudröseln verstand, daß ein Jeder sie in ihrem Zusammenhang erfassen konnte.

Und außerdem war sie dafür berühmt, daß sämtliche Kollegen und sämtliche Oberstufenschüler in sie verliebt waren, und daß selbst solche, die als Tribut an den Fortschritt in nicht traditionelle Richtungen abgeschwenkt waren, durch den unwiderstehlichen Charme ihrer Lehrerin dem Fortschritt entfremdet wurden.

Sie blieb immer sehr freundlich, lächelte den Verliebten manchmal schmachtend zu, und bändelte mit niemandem an.

Nicht, daß sie Angst gehabt hätte, mit einem Schüler anzubändeln; ganz und gar nicht; sie hatte vor fast nichts Angst, außer vor der undurchdringlichen Banalität des Alltags; aber dieses alltägliche Anbändeln schien ihr fast schon zu gewöhnlich. Hätte sich unter den Schülern einer gefunden, bei dem das Anbändeln sie gereizt hätte, so hätte sie ohne Rücksicht auf Verluste sich darauf eingelassen; aber bislang hatte sich noch nie so jemanden gefunden; und unter ihren Kollegen sowieso nicht.

Sicher bändelte sie zwischendurch mit irgendwem an; doch davon wußten weder ihre Kollegen noch ihre Schüler. Ihr Privatleben lebte sie getrennt von der Schule.

***

Die ersten, die sie als Nacktschnecke erleben durften, waren die Besucher eines Nobelnachtclubs im Vergnügungsviertel unserer Stadt. Obwohl niemand wußte, daß das Anita war.

Der Conférencier kündigte einen Nacktschneckentanz an; der Vorhang ging auf, und auf einem länglichen Podest sah man eine riesige braune Nacktschnecke. Die lag da, ganz regungslos; bis Musik einsetzte; und da begann sie, sich zu regen; erst langsam, tapsig, und dann zunehmend schlängelnd, sich windend, wie man das bei den Nacktschnecken beliebiger Größe eigentlich nicht kennt. Dann setzte die Musik aus; das Schlängeln hörte auf, und dafür schoben die beiden Hörner sich nach vorne. Es erschien ein Frauenkopf mit großer schwarzer Augenmaske; ein zischendes Geräusch ertönte, als werde irgendwo die Luft rausgelassen, und der unförmige Schneckenkörper begann zu schrumpfen. Zwei zarte Frauenhände reckten sich neben dem Kopf aus der schrumpfenden braunen Masse heraus; zwei Schultern erschienen; die Hände schoben die braune Hülle hinunter bis unter die Achseln; kurz stützte sie sich auf die Ellbogen, blickte verschmitzt auf die Umstehenden, packte dann die Mütze mit den langen Schneckenhörnern vom Kopf und warf sie weit von sich. Locker fiel langes blondes Haar ihr über die Schultern.

Mit einem Ruck drehte sie sich wieder um, legte den Kopf auf ihre verschränkten Hände und ließ zu der leise wieder einsetzenden Musik lasziv ihre unter der schrumpfenden Schneckenhülle immer deutlicher sich abzeichnenden Formen spielen.

Unvermittelt richtete sie sich auf, hakte die Daumen in die sich unter ihren Achseln an ihren Körper schmiegende dunkle Hülle und schob sie langsam nach unten. Schon lagen ihre erregten Brüste frei; sie verharrte einen Moment, und machte sich dann weiter frei bis zur Taille. Drehte sich zurück in die Bauchlage und ließ, auf die Ellbogen gestützt, im Takt der Musik ihre Hüften schwingen; ergriff dann, hüfteschwingend, mit beiden Händen die sich um ihre Taille schmiegende Hülle und schob sie langsam weiter nach unten, bis zu den Oberschenkeln; warf sich unvermittelt herum, setzte sich mit angezogenen Knien hin, streifte sitzend mit ein paar knappen Bewegungen die Schneckenhülle über die Füße ab und warf sie achtlos beiseite.

Unterdessen erschien hinter ihr der Conférencier, in der Hand eine große Flasche, und aus seinen Jackentaschen ragten die Hälse zweier weiterer Flaschen.

Der Conférencier verkündete, daß Nacktschnecken Salat mögen und Feuchtigkeit lieben; und deshalb werde er sie nun mit Salatöl übergießen. Und schon gluckerte aus der Flasche gelbleuchtendes Öl auf ihre rechte Schulter und weiter auf ihre Brust; dann auf die linke Schulter; lustvoll begann sie, das Öl über ihre Brüste, über ihren Körper zu verreiben; während der Conférencier die leere Flasche beiseite warf und die nächste aus seiner Tasche zog, beugte sie langsam den Oberkörper zurück und räkelte sich schließlich in lustvollem Schlängeln, vom Öle glänzend, unter dem sie benetzenden Strahl; und wie die letzten Tropfen aus der letzten Flasche tropften, schloß sich langsam der Vorhang.

Diese Nacktschneckendarbietung konnte man einen ganzen Monat lang jeden Samstag und Sonntag spätabends in jenem Nobelnachtclub sehen; dann hörte sie auf. Wie sie mir im Vertrauen mitteilte: damit es nicht zur Gewohnheit werde. Eine echte Nacktschnecke sei, entgegen verbreiteter Ansicht, kein Gewohnheitstier, sondern liebe die extreme Abwechslung. Und außerdem könne sie sich ein interessanteres Publikum vorstellen als diese begüterten Nachtschwärmer, denen das Geld das Rückgrat ersetzt.

***

In einer lauen Vollmondnacht brach sie dann zu einem ihrer nächtlichen Parkspaziergänge auf, wobei sie, entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten, eine Umhängetasche voll Butter dabei hatte. Und begab sich geradewegs zu einer Brücke, unter welcher, wie sie wußte, eine Gruppe Stadtstreicher zu nächtigen pflegte. Sie wurde mit Hallo begrüßt; die Stadtstreicher fragten, wer sie sei; und sie antwortete, sie sei eine nächtliche Nacktschnecke.

"Das Nächtliche mag wohl stimmen", entgegnete einer der Stadtstreicher, der frischer wirkte als die übrigen und wohl noch nicht so lange dabei war. "Aber weder bist du eine Schnecke, noch bist du nackt."

"Über das Schneckenhafte in mir mag man streiten", antwortete sie. "Aber Nacktheit ist im Prinzip möglich. Ich brauch mich nur auszuziehen; und schon bin ich nackt."

"Dann zieh dich doch aus" riefen die Stadtstreicher im Chor.

"Aber nur, wenn ihr mich, wenn ich nackt bin, mit Butter einreibt und die Butter anschließend von mir abschleckt."

"Wir haben keine Butter", sagte zerknirscht der etwas frischer wirkende Stadtstreicher.

"Ich war einkaufen und habe welche dabei." Sie öffnete ihre Tasche. "Besser, ihr schleckt sie von mir ab, als wenn sie bei mir im Kühlschrank rumliegt." Sie zog eine Packung heraus, warf es dem jüngeren zu. Eine weitere zog sie heraus und warf sie in die Menge. Und noch eine.

"Au Mann!" rief ein sehr beleibter Stromer, der einen Filzhut trug. "Willst du dich wirklich ausziehen?"

"Sagt ich doch. Wenn ihr mich anschließend einreibt und abschleckt, zieh ich mich aus."

"Wir reiben! Wir schlecken!" schrien die Stadtstreicher im Chor.

Sie nahm ihre Tasche, drehte sie um und schüttete die restlichen Butterpakete auf die Erde. "Bedient euch."

Während die Männer sich auf die Butterpakete stürzten, trippelte sie gemächlich aus dem Schatten der Brücke ans Ufer des Flusses, schaute die Gruppe lächelnd an und begann dann, langsam, genießerisch, im Scheine des vollen Mondes sich auszuziehen.

Noch bevor sie richtig nackt war, wurde sie gepackt; man riß ihr die letzten Fetzen vom Leibe; und bald schon war ihr Körper von einer im Mondenlicht glänzenden Butterschicht bedeckt, die unter Gejohle abgeschleckt wurde.

Anita hatte sicherheitshalber ein paar Kondome in ihrer Tasche verstaut; doch die Leute – selbst der jüngere – waren zu abgehalftert, um richtig zur Sache zu kommen. Aber sie waren – wie Anita mir später im vertrauen mitteilte – im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr phantasievoll, und das sei bislang eines ihrer schönsten Erlebnisse gewesen.

***

Tagsüber erklärte Anita unbeirrt weiter den Lateinschülern unserer Stadt den Ablativus Absolutus und las mit ihnen die Memoiren des Gaius Julius Caesar; und nachts widmete sie sich ihrer Nacktschneckenleidenschaft und dem Erfinden immer extremerer Möglichkeiten, sie auszuleben.

Unter Berücksichtigung ihrer unbekümmerten Phantasie muß man annehmen, daß sie auf solchen Wegen das Weltensein um so manche vergnügliche Absonderlichkeiten bereichern wird; und sollte es mir vergönnet sein, die weitere Entwicklung mitzuverfolgen, so würde ich an diesem Orte laufend darüber berichten.

Nachbemerkung:

Daß Anita nacktschneckophil sein muß, war von vornherein klar; wo könnten wir sonst einen Ansatzpunkt finden für das Nacktschneckenhafte. Warum sie Lateinlehrerin ist – weiß ich nicht. Selbst hatte ich nie eine Lateinlehrerin, sondern immer nur Lateinlehrer; und auch unter den vorhandenen Lehrerinnen oder, vornehmer ausgedrückt, Studienrätinnen, war keine einzige, die auch nur im Entferntesten an Anita erinnert hätte. Und den Ablativus Absolutus hab ich mir später, mit genügend Sicherheitsabstand vom Gymnasium, selbst erklärt, und anschließend das Ganze, von rudimentären Überresten abgesehen, wieder vergessen.

Schon merkwürdig, das Ganze.

Vielleicht das Werk irgendeiner verstorbenen Lateinlehrerin, die gerne so geworden wäre wie Anita, aber realiter weder mit dem Ablativus Absolutus so gut zurechtkam, noch den Mut gehabt hätte, ihre latente Nacktschneckophilie auszuleben, und die nun, gewissermaßen als Kompensierung, den unglückseligen Schreibern solches Zeugs vom Jenseits aus einflüstert.

Könnte sein. Wär möglich.

Nachträgliche Nachbemerkung

In Städten fortschrittlicher westlicher Länder begann man, gaygerechte Fußgängerampeln aufzustellen.

Denn wir leben in fortschrittlichen Zeiten mit zügiger offizieller Umkrempelung offiziell bislang anerkannter Werte. Einstmals Unterdrückte Minderheiten verwandeln sich in unterdrückende Minderheiten mit staatlich gestütztem Missionierungsauftrag; Gayparaden werden abgehalten, Schulbücher neu geschrieben, Verkehrsampeln neu gestaltet, damit die Unterdrückten Minderheiten sich richtig ausleben und entfalten können und keinen Grund haben, sich zu ärgern.

Zur real unterdrückten Minderheit wurden dafür die Nacktschneckophilen. Niemand erwähnt sie, niemand hilft ihnen beim Organisieren von Nacktschneckophilenparaden; und selbst beim Verfassen von Schulbüchern und Verkehrsampeln tut man, als gäbe es sie nicht.

Ich fragte Anita, wie sie diese beunruhigende Situation einschätzt.

Anita antwortete, für sich persönlich ziehe sie die Heimlichkeit vor, da Nacktschneckophilie ihrer Natur nach am besten in nachtdunklem Untergrund gedeiht.

Doch da es möglicherweise Nacktschneckophile gibt, die das anders sehen, sollte man, wie sie meint, im Interesse des Gemeinwohles denn wohl doch Öffentlichkeitsarbeit leisten und zwecks Verteidigung der Rechte der Nacktschneckophilen mit ganzer Energie den Kampf aufnehmen mit den Nacktschneckophoben

Selbst habe sie leider keine Zeit dazu, da sie durch ihre berufliche Tätigkeit und ihre nacktschneckophilen Ausschweifungen zu sehr in Anspruch genommen ist; aber sie könne, zum Beispiel, Personen, die sich im Kampfe um die Einführung nacktschneckophiler Verkehrsampeln hervortun, zur Belohnung an Orgien teilnehmen lassen.

Was doch sicher ein faires Angebot ist.

Versuchen wir's denn.

***

Zur Situation weiterer unterdrückter Minderheiten siehe unter Philophagie und Logophilie; wieauch Polygamie und Zoophilie. Und auch die Masochistinnen werden weitaus stärker und zudem anders unterdrückt, als sie es wünschen. – Noch viele Paraden wird man organisieren, noch viele Verkehrsampeln umgestalten müssen, bis auch der letzte Rest von Ungerechtigkeit aus der Welt verschwunden ist.

Zur russischen Fassung
© Raymond Zoller